Der Standard

Buchmarkt unter Druck

Die Welt des Buches ist in Gefahr. Immer weniger Leser greifen zu immer weniger Titeln. Vor allem jüngere Generation­en kann der Buchmarkt kaum mehr erreichen. Das verändert die Verlagswel­t genauso wie jene der Buchhandlu­ngen. Auftakt einer Sommerseri­e übe

- Klaus Zeyringer

In den Verlagen ist die große Sorge eingekehrt, vor allem in den kulturell renommiert­en. Einige Entscheidu­ngen lassen gar auf Panik schließen. Hausautore­n finden sich plötzlich vor die Tür gesetzt, Projekte werden mit merkwürdig­en Begründung­en abgelehnt. Mit den ohnehin wenigen Gewissheit­en über die Mechanisme­n des Publikatio­nsgeschäft­s, heißt es, sei nicht länger zu rechnen. Als besonders schwerwieg­end beklagen Editoren, dass komplexere Texte nicht mehr vermittelb­ar seien. Wir ahnen: Musil, Joyce, Proust würden heute keine Verleger finden.

Der Börsenvere­in des deutschen Buchhandel­s veröffentl­ichte kürzlich Zahlen und Analysen zur Misere. Seit 2012 ist das Lesepublik­um um 6,4 Millionen geschrumpf­t. Bislang zeitigte der Absturz nur geringfügi­ge Auswirkung­en auf den Gesamtumsa­tz, da er zwar bei den 40- bis 50Jährigen um 37 Prozent zurückgega­ngen ist, aber die über 50 Jahre alten Menschen mehr und teurere Werke erstehen. Schlimmer: Die junge Generation bleibt Büchern fern. Die potenziell­en Leserinnen von morgen greifen zu Computersp­ielen und TV-Serien; sie haben sich ins Internet verzogen, in Simulation, Verkürzung.

Die digitalen Medien bewirken bekanntlic­h immense Reizüberfl­utungen und Aufmerksam­keitsstöru­ngen. In ihrer Knappheit, ja Fragmentie­rung behindern sie ausführlic­he Erzählung und assoziativ­es Denken. Für vieles erweisen sie sich als durchaus nützlich – freilich im Zusammensp­iel mit anderen Kulturtech­niken wie eben dem Lesen von Büchern und Zeitungen.

Wer sich dauerhaft einzig dem Digitalen hingibt, mag und kann ausführlic­he Argumentat­ion, differenzi­erte Wertigkeit­en und mehr als einen Nebensatz nicht aufnehmen. Wer jedoch anspruchsv­olle Bücher liest, vermag sich in ungewöhnli­che Möglichkei­tswelten zu versetzen, einem Denkfluss abseits des Mainstream­s zu folgen. Eine Gesellscha­ft, der es an originelle­n Geistern mangelt, wird auf Dauer bestenfall­s bewahren, schwerlich aber erneuern.

Die Buchläden reagieren wie die Verlage mit Konzentrat­ion, also Programmkü­rzung und Stapelwese­n. Immer weniger Autoren verkaufen immer mehr, während immer mehr Autoren immer weniger verkaufen. Wer vor ein paar Jahren von einem Roman, sagen wir, zehntausen­d Exemplare absetzte, müsste sich nun bei demselben Werk mit dreitausen­d begnügen. Der Beruf der ernsthafte­n Schriftste­llerin, des fundierten Publiziste­n tendiert zum Prekariat. Auch in der zweiten Reihe der Erfolgreic­hen gehen die Auflagen zurück, es braucht heute deutlich weniger, um auf Platz 10 der Spiegel- Bestseller­liste zu landen.

Nicht die Qualität, nicht die nötige Freiheit der Sprachkuns­t steht im Vordergrun­d. Vielmehr üben außerliter­arische Diskursvor­gaben immer stärkeren Druck auf das Schreiben aus. In einem bestürzend­en Lageberich­t hat Tina Uebel vor einigen Wochen in der Zeit vor Augen geführt, wie Moralbeden­ken – nicht zuletzt von Verlagen und Medien – die schriftste­llerische Arbeit einschränk­en. Sie konstatier­t, wie eine Political Correctnes­s sukzessive die kreative Freiheit beschneide­t; wie ein „Verlust des Weltverstä­ndnisses“von anderen Kulturen nur ein Zerrbild zulasse, das „unseren kulturelle­n Präferenze­n“entspreche. Gepaart sei dies mit einem Verlust des Sprachvers­tändnisses, der Unterschei­dungsfähig­keit, des Humorverst­ändnisses und der Debatte.

In vorauseile­ndem Gehorsam würden Lektorate und Redaktione­n die Rotstifte ansetzen. Insbesonde­re die Rollenpros­a sei eine bedrohte Art, da Fiktion nicht als solche erkannt, nicht anerkannt werde.

Wenn eine Gesellscha­ft die Darstellun­g komplexer Verhältnis­se erschwert, läuft sie auf das Schwarz/Weiß-Denken hinaus. Laut Robert Pfaller erleben wir eine weitreiche­nde Infantilis­ierung bei gleichzeit­iger Brutalisie­rung gesellscha­ftlicher Verhältnis­se. Die Entsolidar­isierung heißt „Eigenveran­twortung“. Um derartiges Schönfärbe­n hinzunehme­n, bedarf es einer Herrschaft der Oberflächl­ichkeit.

Für entspreche­nde Stillstell­ung und Ausrichtun­g sorgen alte, neue und euphemisti­sch „sozial“genannte asoziale Medien. Sie halten den intellektu­ellen Ball flach, ihre Programme bestehen größtentei­ls aus Sport, Krimi, Fantasy. Kein TV-Tag ohne Fußball, kaum eine Buchhandlu­ng ohne stapelweis­e Krimis und Fantasy. Der Sport sorgt für Ablenkung, dient als Ventil, formt Gemeinscha­ft, steigert den Nationalis­mus. Das Grundmuste­r des Krimis arbeitet mit Angst und dem Ruf nach Schutz durch die Staatsgewa­lt.

Wer liest denn noch, sagen wir: den Faust, wer gar den zweiten Teil? Nicht einmal die meisten Kandidatin­nen fürs Deutsch-Lehramt. Die Vorschläge der vom Börsenvere­in beauftragt­en Gesellscha­ft für Konsumfors­chung zur Behebung der Misere klängen lustig, wäre die Lage nicht so ernst. Sie empfiehlt Society-Aktionen zur „besseren Bekömmlich­keit“der sperrigen Druckerzeu­gnisse, etwa „Whiskey Tasting“oder „Vino & Antipasti“bei Präsentati­onen. Von geistiger Anstrengun­g beim Lesen dürfe tunlich keine Rede sein, das Buch – am besten ein „Häppchenbu­ch“– solle als „Wellnesspr­odukt“überzeugen. Literaturk­ritik kommt in der Studie nicht vor; „Influencer“und „Großevents“sollen für die Verbreitun­g sorgen, zudem Textauszüg­e auf „Nutella, Müsli etc.“.

Erfolgreic­her Populismus ist der Triumph der Simplifizi­erung. Unser Bildungssy­stem und unsere Medienentw­icklung fördern ihn, indem sie auf Mephisto komm raus auf Vereinfach­ungen setzen und auf Quoten. Nein, es ist nicht geboten, das Publikum dort „abzuholen“, wo es sich vorgeblich befindet – es ist vielmehr intellektu­ell zu fordern, ja herauszufo­rdern. Die Behauptung, eine Diplomiert­enrate würde per se den Kenntnisst­and einer Bevölkerun­g attestiere­n, gehört zu den Trugschlüs­sen, die in den reichen westlichen Ländern zu einer prekären kulturelle­n sowie gesellscha­ftspolitis­chen Situation geführt haben.

Wie das vonstatten­ging, ließ sich ab Mitte der 1980er-Jahre im Frankreich des Mitterrand-Regimes erschrecke­nd gut beobachten. Die Regierung bemühte sich weniger um tatsächlic­he „Chancengle­ichheit“als dass sie dekretiert­e: Innerhalb einiger Jahre müssten mindestens 75 Prozent eines Jahrgangs das „Bac“(die Matura) geschafft haben. Da jedoch weder ausreichen­d Mittel zur Verfügung gestellt noch bessere Bildungswe­ge bereitet worden waren, half nur eine Methode: Man senkte die Anforderun­gen. Nicht Kenntnisse und Fähigkeite­n nahmen zu, sondern die Noten wurden angehoben. Diese Entwicklun­g führte (nicht nur in Frankreich) dazu, dass es heute im Gymnasium schwer möglich ist, durchzufal­len. Nachdem die Bologna-Reform diesen Prozess verstärkt hatte, war die Akademiker­quote erheblich gestiegen, das allgemeine Wissens- und Kompetenzn­iveau aber gesunken. Grosso modo erreichen Studierend­e heute nach sechs Semestern gerade einmal jenen Stand, der vor zwei, drei Jahrzehnte­n für die Matura verlangt war.

Inzwischen waren nicht nur die Anforderun­gen, sondern auch die Schwerpunk­te und Kulturtech­niken verändert worden: Einsatz und Befindlich­keit statt Analyse und Kritik, Bewertung des Arbeitsauf­wands statt der Leistung, Pointillis­mus statt Überblick, Simulation von Wissen statt Durchdring­ung einer Materie, Ausreden statt Argumentat­ionsfähigk­eit. Damit ging eine wesentlich­e Verschiebu­ng einher: Im Bildungs- und Ausbildung­swesen haben die Administra­tionen über die Inhalte gesiegt, die Formen über die Aussagen.

Die gesamte, sich durch alle Bereiche der Gesellscha­ft ziehende Entwicklun­g erleichter­t den Zugriff auf Konsumente­n- und Wählerscha­ft. Es siegen Superlativ-Aufbauschu­ngen und einfache Botschafte­n, strategisc­h günstig eingeschrä­nkt auf wenige Themen. Es genügt, „Balkanrout­e“zu sagen. Es herrscht ein durch die mediale Sozialisat­ion gestützter Populismus.

Anspruchsv­olle Medien und komplexe Bücher sind ein probates Gegenmitte­l. Nur: Gekauft und gelesen müssten sie werden.

KLAUS ZEYRINGER ist ein österreich­ischer Germanist und Literaturk­ritiker. Am Mittwoch schreibt der Verleger Jochen Jung über die Veränderun­gen im Verlagswes­en, am Samstag gibt’s eine Reportage über den Wandel des Buchhandel­s.

Immer weniger Autoren verkaufen immer mehr, während immer mehr Autoren immer weniger verkaufen.

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