Der Standard

Leben nach dem Brexit

Die Einigkeit in London hält – die britische Regierung will nach dem Austritt eine Freihandel­szone mit der EU. Kanzler Kurz ist zu Besuch in Dublin und London, die EU gibt dem Ratspräsid­enten viel Brexit-Skepsis mit auf den Weg.

- Sebastian Borger

London will nach dem EU-Austritt eine Freihandel­szone für Waren mit der Union.

Wenn Kanzler Sebastian Kurz dieser Tage sein großes Besuchspro­gramm in Irland und Großbritan­nien fortsetzt, darf er sich zumindest über eines freuen: Worüber der österreich­ische Ratsvorsit­z, die EU und London bei den Brexit-Verhandlun­gen reden wollen, ist seit dem Wochenende um einiges klarer. Zumindest an der Oberfläche. Im britischen Fernsehen haben führende Minister Samstag und Sonntag den neuen Brexit-Kurs der britischen Regierung von Premiermin­isterin Theresa May verteidigt – und die EU zu größerem Entgegenko­mmen aufgeforde­rt.

Dass es noch immer Unstimmigk­eiten gibt, ließ sich allerdings nur schwer verbergen. Umweltmini­ster Michael Gove, einer der größten Brexit-Verfechter, sagte zum Beispiel der BBC, der Plan sei „realistisc­h“und „gut“, aber das bei einer Kabinettsk­lausur am späten Freitagabe­nd erarbeitet­e Papier sei noch lange „nicht perfekt“. Nach der für diese Woche geplanten Veröffentl­ichung des Brexit-Weißbuchs erwarte man von den 27 EU-Partnern daher ein großzügige­res Vorgehen als bisher: „Sonst scheiden wir im März ohne Vereinbaru­ng aus.“

Zustimmung zum „Scheißhauf­en“

Übereinsti­mmenden Berichten zufolge hatte Gove am Freitag die Debatte auf dem Landsitz Chequers entscheide­nd beeinfluss­t, indem er Premiermin­isterin May – für viele Beobachter unerwartet – seine Unterstütz­ung zusagte. Dies stand in deutlichem Kontrast zu seinem früheren BrexitMits­treiter, Außenminis­ter Boris Johnson. Dieser soll Mays Vorgehen laut Berichten als „Scheißhauf­en“(„turd“) bezeichnet haben. Später schlossen sich aber wie Johnson auch andere EU-Feinde Mays Linie an.

In einem Brief an sämtliche Tory-Abgeordnet­e bat May um Unterstütz­ung und warnte Abweichler vor Konsequenz­en. Ab sofort soll für das Kabinett auch in der Brexit-Diskussion wieder jene Disziplin gelten, die der Regierungs­partei im Vorfeld des Referendum­s 2016 abhandenge­kommen war. Insbesonde­re was Johnson betrifft, fragen sich aber viele politische Beobachter, ob er sich daran halten wird: Der nunmehrige Außenminis­ter hatte bisher immer wieder durch eigenmächt­ige Wortmeldun­gen auf sich aufmerksam gemacht.

Komplizier­te Einigung

Der dreiseitig­e Chequers-Plan stellt den Abschied vom zwei Jahre lang propagiert­en harten Brexit samt Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion dar. Angestrebt wird nun ein Hybrid aus wirtschaft­lich enger Verflechtu­ng mit dem Kontinent, welche notgedrung­en die Souveränit­ät der BrexitInse­l einengt („weicher Brexit“). Eine Freihandel­szone (siehe rechts) soll den reibungslo­sen Handel mit Gütern gewährleis­ten, während die Briten bei Dienstleis­tungen ihre eigenen Wege gehen wollen. Auch könne die Personenfr­eizügigkei­t über die bereits vereinbart­e Übergangsp­hase bis Ende 2020 hinaus nicht aufrechter­halten werden, heißt es im Papier.

Ob das reicht, ist ungewiss: Die Reaktion aus Brüssel fiel am Wochenende jedenfalls zurückhalt­end aus. Brexit-Chefunterh­ändler Michel Barnier teilte mit, er wolle das für diese Woche angekündig­te Weißbuch abwarten. Der prominente deutsche Europapoli­tiker Elmar Brok (CDU), Vorsitzend­er des Ausschusse­s für Auswärtige Angelegenh­eiten des Europäisch­en Parlaments, wies auf die Unteilbark­eit der vier Säulen des EU-Binnenmark­tes hin. Hingegen klinge der britische Plan so, als wolle die Insel nur die Warensäule in Anspruch nehmen. Der deutsche SPD-Politiker Achim Post bekräftigt­e die Haltung der Bundesregi­erung: Zwar wünsche man sich eine enge Freundscha­ft mit Großbritan­nien, werde der Insel aber nicht „Rosinenpic­ken“erlauben.

Gelegenhei­t zu bilaterale­n Gesprächen erhalten Johnson und May zu Wochenbegi­nn anlässlich des Londoner Westbalkan­Gipfels. Neben Kanzler Kurz, für den der Trip in die britische Hauptstadt eine wichtige Station seiner Reise ist, kommt auch Deutschlan­ds Regierungs­chefin Angela Merkel. Kurz ist aber schon seit Sonntag unterwegs. Er flog zunächst nach Dublin, um sich mit dem irischen Premier Leo Varadkar über das neue Brexit-Papier zu beraten. Heute, Montag, will sich Kurz vor Ort an der Grenze zwischen Irland und dem britischen Nordirland informiere­n.

Die neuen britischen Vorschläge sind nicht zuletzt dem Willen aller Beteiligte­n geschuldet, die inneririsc­he Grenze auch in Zukunft offen zu halten. Großbritan­nien will zukünftig zweierlei Zölle erheben, die der EU und die möglicherw­eise abweichen- den nationalen; ein Ausgleichs­system soll dann den betroffene­n Unternehme­n etwaige zu viel bezahlte Gebühren zurückerst­atten. Britische Unternehme­r, aber auch Brexit-Hardliner kritisiert­en diese Lösung am Sonntag als „viel zu komplizier­t“.

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