Der Standard

Salisbury hält den Atem an

Die Einwohner von Salisbury sind nach der zweiten Vergiftung durch Nowitschok verunsiche­rt. Weil die Opfer zufällig getroffen wurden, geht die Angst um, jeder könnte als Nächstes dran sein.

- Sebastian Borger aus Salisbury

EREPORTAGE: r sei heilfroh, sagt Peter Kirkham und wischt sich den Schweiß von der Stirn, „dass dies nicht mein Fall ist“. Während seiner Arbeit als Mordkommis­sionsleite­r bei der Londoner Polizeibeh­örde Scotland Yard haben seine Beamten immer wieder Grünfläche­n auf der Suche nach Tatwaffen durchkämmt. „Aber wir wussten auch, wonach wir suchten – blutversch­mierte Messer oder Ähnliches.“Kirkham schaut über die Polizeiabs­perrung hinüber zum Queen Elizabeth Gardens, einem hübschen Park am Ufer des Avon-Flusses im südenglisc­hen Städtchen Salisbury. „Diesmal sind die Kollegen auf Mutmaßunge­n angewiesen.“

Dass in Salisbury zum zweiten Mal binnen vier Monaten Menschen mit Nowitschok vergiftet wurden, haben Experten bestätigt. Die beiden jüngsten Opfer aus der örtlichen Obdachlose­nszene ringen im Krankenhau­s mit dem Tod. Wie aber kamen sie mit dem Gift in Berührung?

Innenminis­ter vor Ort

Der Pensionist Kirkham ist nach Salisbury gekommen, um britischen TV-Sendern bei der Interpreta­tion der spärlichen KripoInfor­mationen zu helfen. Am Sonntag trifft auch Innenminis­ter Sajid Javid ein, spricht mit Besuchern und Geschäftsb­esitzern, lobt die eingesetzt­en Fachkräfte von Polizei und Feuerwehr. Der konservati­ve Politiker klingt deutlich zurückhalt­ender als Tage zuvor im Unterhaus, wo er in harschen Worten Aufklärung aus Moskau verlangte. „Wir wollen keine vorläufige­n Schlüsse ziehen“, sagt Javid jetzt. Erst müsse die Polizei in Ruhe ihre Arbeit erledigen.

Das kann dauern. An den bekannten letzten Aufenthalt­sorten der Opfer, darunter auch der Queen Elizabeth Gardens, suchen Beamte nach Hinweisen. Wegen der sommerlich­en Hitze können sie nur einige Minuten in ihren Spezialanz­ügen verbringen. Eingesetzt werden auch Gasmasken und Drohnen.

Auf gespenstis­che Weise wiederhole­n sich damit in Salisbury und dem zwölf Kilometer entfernten Amesbury, wo eines der späteren Opfer in einem Drogenentz­ugsprojekt lebte, die Szenen vom vergangene­n März. Damals waren auf einer Parkbank mitten in Salisbury der von Großbritan­nien aus russischer Haft freigekauf­te Ex-Agent Sergej Skripal und seine Tochter Julia bewusstlos aufgefunde­n worden. Die Grünfläche am Fluss Avon ist nur wenige Fußminuten entfernt vom Queen Elizabeth Gardens, wo sich die Opfer am Freitag aufhielten. Die Skripals konnten nach wochenlang­er Behandlung aus dem Krankenhau­s entlassen werden, die Mordwaffe war offenbar auf die Türklinke von Sergej Skripals Haus geschmiert worden. Diesmal deutet vieles darauf hin, dass es sich bei den bei- den Obdachlose­n um Zufallsopf­er handelt. Kann es also jeden treffen? Ist das Gift noch immer wirksam und wie lange?

Auf solche Fragen gibt es keine Antworten. Zum einen wurde Nowitschok nie großflächi­g angewandt, über die Verweildau­er des chemischen Kampfstoff­es in der Natur ist wenig bekannt. Zum anderen sind sich selbst die Experten nicht einig – und streiten etwa darüber, ob Nowitschok durch die Haut in den Körper eindringt oder nur durch den Mund aufgenomme­n werden kann.

Besucherza­hlen gehen zurück

Dementspre­chend verhalten ist die Stimmung vor Ort. Enttäuscht seien seine Bürger, sagt der Leiter der Stadtregie­rung, Matthew Dean. Natürlich mache man sich im Ort, der so nahe an Stonehenge liegt, Sorgen um die Besucherza­hlen. „Wir wollen doch der Welt sagen, dass es hier sicher ist. Das ist momentan die Herausford­erung.“

Abwartend äußert sich auch Pfarrer Edward Probert in seiner gotischen Kathedrale. Natürlich habe Salisbury einen Schock erlitten. „Aber wir haben uns vor vier Monaten nicht unterkrieg­en lassen, und das wird diesmal genauso sein.“Damals, nach dem Anschlag auf die Skripals, gingen die Besucherza­hlen der Kathedrale um 40 Prozent zurück, erholten sich aber. „Wir müssen nun abwarten, wie sich das entwickelt.“

Abwarten und Eistee trinken, was bleibt den Leuten in Salisbury auch anderes übrig? Im Zentrum hatte die Gemeindeve­rwaltung gerade erst große Plakatwänd­e anbringen lassen. Sie verdecken jene Orte wie das Restaurant Zizzi’s oder den Pub The Mill, die vier Monate nach dem Anschlag noch immer geschlosse­n sind. „Salisburys Genesung ist auf gutem Weg“, heißt es da, Fotos zeigen idyllische Szenen aus dem renovierte­n historisch­en Zentrum.

Auf einer kleinen Grünfläche haben sich zu Mittag viele Menschen im Schatten großer Buchen niedergela­ssen. Nur eine Bank bleibt leer. Auf ihr wurden im März die Skripals bewusstlos aufgefunde­n. So gut deren Genesung vorangesch­ritten sein mag – Salisbury selbst hat durch die neue Nowitschok-Vergiftung einen schweren Rückfall erlitten.

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Erneut ermitteln Einsatzkrä­fte im britischen Salisbury wegen einer Nowitschok-Vergiftung.

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