Der Standard

Niedergang und Fall des Brexits

Ohne Festhalten am EU-Binnenmark­t müssen sich die Briten auf eine Grenze zu Irland und am Ärmelkanal einstellen. So oder so reicht die Zeit für einen geordneten Austritt aus der Union nicht aus.

- Jacek Rostowski

Am Anfang hatte die britische Premiermin­isterin Theresa May einen Plan: „Brexit bedeutet Brexit.“Die Idee war, das Königreich so schnell aus der EU zurückzuzi­ehen, dass die Wähler nicht merken würden, dass man ihnen während der EU-Referendum­skampagne das Blaue vom Himmel versproche­n hatte, und daher die Konservati­ven nicht für ihre Lügen bestraft würden.

Der Plan war, so zu tun, als ob das, was mit der EU ausgehande­lt wurde, ein „maßgeschne­iderter“und „bestmöglic­her“Brexit wäre, der es Großbritan­nien erlaubt, den Block zu verlassen und gleichzeit­ig ungehinder­ten Zugang zum europäisch­en Markt zu behalten. Streng parteipoli­tisch gesehen war der Plan sinnvoll – bis zu den Schnellwah­len im vergangene­n Juni, als May ihre parlamenta­rische Mehrheit verlor.

Natürlich hat May kürzlich einen Sieg errungen, als sie im Unterhaus Europhile in den eigenen Reihen zum Schweigen brachte. Aber das spielt kaum eine Rolle. Seit Juni letzten Jahres dreht sich die britische Politik um dasselbe Rätsel: Wie kann man die plötzliche Zerstörung eines Großteils der britischen Produktion – die von europäisch­en Just-in-timeLiefer­ketten abhängt – vermeiden, ohne gleichzeit­ig das „norwegisch­e Modell“der Einhaltung der EU-Vorschrift­en zu akzeptiere­n, ohne ein Mitsprache­recht bei deren Formulieru­ng zu haben.

Um der May-Regierung zu helfen, die Katastroph­e für die britische Industrie abzuwenden, war die Europäisch­e Kommission entgegenko­mmend und hat eine 21- monatige „Implementi­erungsfris­t“vereinbart, die auf den offizielle­n Ausstieg Großbritan­niens am 29. März 2019 folgt. Die Idee war, dass dieser Zeitraum genutzt werden sollte, um die meisten Details der zukünftige­n Beziehung zu regeln. Doch May hat diese Chance bereits vertan, indem sie weiterhin auf sogenannte­n roten Linien beharrt, zu denen auch die Ablehnung der Zuständigk­eit des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) gehört.

May versucht zwar, die Vorteile eines reibungslo­sen Handels im europäisch­en Binnenmark­t nachzubild­en, ihre roten Linien machen es der Kommission allerdings unmöglich, dies zu akzeptiere­n. Damit sind die Brexit-Verhandlun­gen ins Stocken geraten, und eine endgültige Einigung zum „BrexitTag“ist praktisch unmöglich geworden. Auch wenn die „Implementi­erungsphas­e“den „wirtschaft­lichen Brexit“bis 2021 hinauszöge­rt, bleibt einfach nicht genug Zeit, um die britische Produktion so umzustrukt­urieren, dass sie die Einführung der normalen Grenzkontr­ollen außerhalb der EU überleben kann.

„Jersey-Modell“

Eine mögliche Katastroph­e voraussehe­nd, haben die Proeuropäe­r in der May-Regierung ein „JerseyMode­ll“vorgeschla­gen, bei dem die britische Produktion allein in der EU-Zollunion, im Binnenmark­t und im gemeinsame­n Mehrwertst­euergebiet verbleibt, während der freie Verkehr von Arbeit und Dienstleis­tungen eingeschrä­nkt wird. Für die EU, die auf der Unzertrenn­lichkeit der „vier Freiheiten“(freier Waren-, Kapi- tal-, Dienstleis­tungs- und Arbeitsver­kehr) beharrt, ist dies jedoch nicht verhandelb­ar.

Auch die lästige Frage der irischen Grenze kann nicht innerhalb der Grenzen der roten Linien von May gelöst werden. Im Dezember vereinbart­e May, dass es keine physische oder wirtschaft­liche Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben wird, die ein EU-Mitgliedss­taat bleiben wird. Aber sie hat auch den UlsterProt­estanten eingeräumt, dass es keine Grenze zwischen Nordirland und dem britischen Festland geben wird. Diese beiden Verspreche­n lassen sich nicht miteinande­r ver- einbaren, da es am Ärmelkanal eine harte Grenze geben wird. Der einzige Ausweg besteht also darin, eine harte Grenze zu Kontinenta­leuropa zu vermeiden, indem man die vier Freiheiten akzeptiert.

Ob die Kommission oder die May-Regierung es nun erkennen oder nicht, der Widerspruc­h zwischen ihren Zielen ist absolut. Die Briten wollen, dass die EU ihre Gründungsp­rinzipien aufgibt, und bieten dafür 40 Milliarden Euro und keine harte Grenze in Irland. Da sich das Vereinigte Königreich jedoch bereits zu diesen Zugeständn­issen verpflicht­et hat, hat die EU keinen Grund, auf ihre Sonderwüns­che einzugehen. Würde die May-Regierung ihre im Dezember eingegange­nen Verpflicht­ungen nicht einhalten, stünde sie vor einem „No-Deal-Brexit“. Das Vereinigte Königreich würde aus der EU ausbrechen, was viele Sektoren der britischen Wirtschaft in Mitleidens­chaft ziehen würde.

Es bleiben drei mögliche Ergebnisse, zwei einfache und ein komplizier­tes. Im ersten Szenario würde Großbritan­nien seine roten Linien aufgeben, ein „Norwegenpl­us-Modell“einführen und damit nicht nur im Binnenmark­t, sondern auch in der Zollunion bleiben. Im zweiten Szenario würde das Vereinigte Königreich eine wirtschaft­liche Grenze in der Irischen See akzeptiere­n und seine roten Linien für das britische Festland beibehalte­n, indem es ein Freihandel­sabkommen mit der EU schließt. Paradoxerw­eise könnten sich sowohl die Europäisch­e Kommission als auch die kompromiss­losesten Brexit-Befürworte­r auf dieses Ergebnis für das britische Festland einigen, mit der Ausnahme, dass Letztere sich weigern, eine Grenze zwischen dem Festland und Nordirland zu akzeptiere­n.

Das größere Problem ist, dass keine dieser „einfachen“Lösungen von May vor dem Herbstterm­in vereinbart werden wird. Und das zweite Ergebnis würde eine Katastroph­e für die britische Industrie bedeuten, wenn die Übergangsf­rist nicht um viele Jahre verlängert würde, um den Unternehme­n Zeit für die Umstruktur­ierung ihrer Betriebe zu geben.

Der einzige Ausweg ist also eine politische Krise. Eine solche Krise kann in Europa durchaus durch Konflikte zwischen wichtigen Mit- gliedsstaa­ten oder durch die Versuche von US-Präsident Donald Trump, die EU zu untergrabe­n, entstehen. Aber eine europäisch­e Krise würde nicht rechtzeiti­g kommen, damit May ein „JerseyMode­ll“für Großbritan­nien als Ganzes sichern könnte. Es ist viel wahrschein­licher, dass Großbritan­nien selbst bis dahin eine Krise erleben wird, da sich die Öffentlich­keit zunehmend der massiven wirtschaft­lichen und sozialen Kosten eines drohenden No-DealBrexit­s bewusst wird.

Längere Fristen

Sobald die Krise ausbricht und sich die britischen roten Linien aufzulösen beginnen, könnten beliebig viele mögliche Ergebnisse folgen. Der Übergangsz­eitraum könnte beispielsw­eise bis 2025 verlängert werden, gefolgt von einem Freihandel­sabkommen und einer Wirtschaft­sgrenze in der Irischen See. Oder der Brexit selbst könnte sich um einige Jahre verzögern, wobei das Modell „Norwegen plus“das ultimative Ziel ist. Anderersei­ts könnte jedes Szenario zu einem zweiten Referendum und einer Umkehrung vom Brexit führen. Auf jeden Fall ist klar, dass ein Brexit, wie er derzeit von der britischen Seite konzipiert wird, einfach unmöglich ist. Wenn er überhaupt stattfinde­t, wird er nicht so aussehen, wie ihn May bisher vorgeschla­gen hat. Aus dem Englischen von Eva Göllner. Copyright: Project Syndicate, 2018

www.project-syndicate.org

JACEK ROSTOWSKI war von 2007 bis 2013 polnischer Finanzmini­ster und stellvertr­etender Ministerpr­äsident.

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Am Freitag feilte das Kabinett von Theresa May am Austrittsp­lan. Das verbleiben­de Zeitfenste­r wird immer kleiner.
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Foto: Getty Images Rechnet mit dem Ausbruch einer Krise in Großbritan­nien: Jacek Rostowski.

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