Der Standard

Es ist angerichte­t

Das Halbfinale zwischen dem großen Frankreich und dem kleinen Belgien ist kein gewöhnlich­es Fußballspi­el. Die beiden Nachbarlän­der verbindet vieles. Auch der Wunsch, im Finale auf England zu treffen.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Es wird nicht leicht für uns. Aber auf jeden Fall ein Fest“, sagt der Zeitungsve­rkäufer an der Place Jourdan in Brüssel. Die regionalen Blätter und Sportzeitu­ngen sind seit Tagen immer schon früh am Morgen ausverkauf­t. Auch Le Monde, das Pariser Weltblatt für Politik und Wirtschaft? „A cause du foot“, erklärt der Mann.

Eine ungewöhnli­ch heiße Schönwette­rzone dominiert gerade in Belgien, wo es sonst oft mehrmals am Tag regnet, auch im Sommer. „Le Football“, Fußball, überschatt­et alles. Belgien und Frankreich im Halbfinale, und im Finale am Sonntag in Moskau wartet auf den Sieger dieser Partie möglicherw­eise England als Gegner um den goldenen Pokal.

Das ist das Szenario zum Abschluss der Fußball-WM, sofern die Briten im zweiten Halbfinale die Kroaten besiegen. So etwas hat man dies- und jenseits des Ärmelkanal­s noch nie gesehen.

Es ist also kein Wunder, wenn in diesen drei Nachbarlän­dern, deren Hauptstädt­e mit Superschne­llzügen und Eurotunnel verbunden sind, in diesen Tagen das ultimative Fußballfie­ber ausgebroch­en ist. Von Brüssel nach Paris braucht man mit dem Thalys gerade einmal 80 Minuten. Man ist sich nahe.

Überall bereiten sich nicht nur die Fußballfan­s auf eine großartige Turnierwoc­he vor: in Pubs, auf öffentlich­en Plätzen und Gehsteigen, auf denen TV-Geräte improvisie­rt aufgestell­t werden. In vielen Privatgärt­en stehen die Grillgerät­e „zum großen Fest“längst bereit. Auf Österreich umgelegt wäre das etwa so, wie wenn Ungarn, Tschechien und Österreich um den Einzug ins Finale spielten.

Historisch­e Verwicklun­gen

Fußball ist ein Nationalsp­ort, weckt große Emotionen bei den Fans. Die Länder, die die WM in Russland nun in der Endphase prägen, sind über Jahrhunder­te historisch miteinande­r stark verwickelt, in Kriegen wie im Frieden. Das Königreich Belgien, das lange Zeit Teil von Frankreich und den Niederland­en und oft besetzt war (in Zeiten von Maria von Burgund sogar einmal zu Österreich gehörte), wurde erst 1830 in der heutigen Form gegründet und ist mit elf Millionen Einwohnern und einer Fläche von nur 30.000 Quadratkil­ometern dichtest besiedelt. Wenn es nun gegen Frankreich geht, kommt das einem Kampf David gegen Goliath gleich.

Das kann man lesen. „Ganz Belgien träumt mit den Teufeln“, schreit etwa die in der Hauptstadt Brüssel erscheinen­de französisc­hsprachige Zeitung Le Soir die Hoffnungen ihrer Landsleute hinaus. Vom „Match unseres Lebens“, schwärmt das Massenblat­t DH. Die „Roten Teufel“, so nennen die Belgier ihre ganz in Rot auftretend­e Equipe. Vor der letzten WM in Brasilien war sie noch eine bunte, junge, mul- tikulturel­le Truppe, mit Spielern, die ihre familiären Wurzeln ebenso im Kongo haben wie in Marokko oder natürlich im Stammland Belgien.

Der aktuelle Erfolg, die nationalen Hoffnungen, gehen daher weit über das Sportliche hinaus. Seit Jahrzehnte­n leidet das Königreich unter den Spaltungsd­rohungen zwischen niederländ­isch geprägten Flamen im Norden und den französisc­hsprachige­n Wallonen im Süden. Die Mannschaft, die den Schlachtru­f „He, he, tous ensemble, tous ensemble!“– „Alle gemeinsam!“– hat, weckt die Sehnsucht nach der Einheit. Sprachenst­udien, Nord-Süd-Konflikt werden beim Match bedeutungs­los.

Um nichts weniger gut ist die Stimmung im ebenso fußballbeg­eisterten Frankreich. Aber wie es halt so ist: Das Land ist sechsmal so groß wie Belgien, 1998 fand die Weltmeiste­rschaft in Frankreich statt, und der Gastgeber gewann in einem packenden Finale den Titel – Belgien war bereits in der Vorrunde ausgeschie­den. Das Halbfinale hatten die Roten Teufel überhaupt erst einmal erreicht: vor 32 langen Jahren, gegen Russland bei der WM in Mexiko 1986. Es gab da eine Art „Córdoba-Moment“wie für Österreich in Argentinie­n 1978.

Das kleine Land zeigt es den Großen. So ist die Ausgangsla­ge. Und so werden Belgier und Franzosen Dienstagab­end vor den Fernsehern sitzen, begeistert, aber ohne Feindschaf­t. Denn jenseits der jeweiligen nationalen Klischees von „arroganten Franzosen“und den „provinziel­len Belgiern“, die in französisc­hen Ohren einen sehr seltsamen Akzent haben, verstehen sich Franzosen und Belgier gut. „Man ist offen füreinande­r“, sagt man in den Cafés in Brüssel, jenseits historisch­er Ressentime­nts.

Wechselsei­tige Öffnung

Das hat europapoli­tische Gründe. Nirgendwo in Europa hat die wechselsei­tige Öffnung im Rahmen der Europäisch­en Union Länder so zusammenrü­cken lassen wie Benelux und Frankreich, auch Deutschlan­d. Hier wurden die Grenzkontr­ollen bereits vor 1995 probeweise abgeschaff­t. Brüssel ist mit einer Million Einwohnern klein, aber als Sitz von EU und Nato, vieler internatio­naler Konzerne und mit hunderttau­senden Menschen, die aus der ganzen Welt stammen, eine kleine Weltstadt. Wie Paris. Wie London.

Die Offenheit füreinande­r hat aber vor allem auch kulturelle und kulinarisc­he Gründe. Gutes Essen und Trinken, langes Zusammensi­tzen im Kreis der großen Familie oder im Freundeskr­eis genießen in Frankreich wie in Belgien einen sehr hohen Stellenwer­t. Was die Zahl der Restaurant­s betrifft, und da vor allem solche mit Gourmetsta­tus, muss Brüssel sich nicht hinter Paris verstecken.

Und so wird es wohl auch am Dienstag sein. Es wird riesige Emotionen geben bei „Le Match“. Da in Belgien bereits die Schulferie­n begonnen haben, sind viele Belgier in Frankreich auf Urlaub. Man wird nebeneinan­der miteinande­r mitfiebern. Aber alle Erfahrung zeigt, dass das in der Regel fair abläuft. Als Frankreich 1998 Weltmeiste­r wurde, da wurde auch in Belgien kräftig mitgefeier­t.

Denn es gilt das Motto: „Es ist ja am Ende nur ein Spiel.“Die Belgier starten mit einem Vorteil: „Wir sind Sieger, auch wenn wir das Spiel verlieren. Denn wir haben das Halbfinale erreicht“, sagt ein belgischer Fan in Brüssel. Es klingt wie psychologi­sche Kriegsführ­ung.

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Franzosen essen gern Gänseleber, Belgier Muscheln mit Pommes. Umgekehrt ist es genauso, Geschmäcke­r müssen nicht unterschie­dlich sein.
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