Der Standard

Die Lücke zwischen Leben und Tod

„Lincoln im Bardo“, der erste und ziemlich tollkühne Roman des US-Satirikers George Saunders, spielt auf einem Friedhof unter lauter Untoten. Dort tobt ein Kampf mit Trauer, Leid und Nachleben.

- Dominik Kamalzadeh

William „Willie“Lincoln war elf Jahre alt, als er im Februar 1862 an Typhus starb. Wie stark der Tod Willies, dritter und bevorzugte­r Sohn Abraham Lincolns, dem 16. US-Präsidente­n zusetzte, ist durch zahlreiche Quellen belegt. In den Vereinigte­n Staaten tobte der Bürgerkrie­g damals bereits im zweiten Jahr, Lincolns Führung wurde offen kritisiert, da schleicht der Präsident allein zum Friedhof in Georgestow­n, um seinen Sohn nochmals in Händen zu halten, zu liebkosen. Er kämpft mit dem Glauben und gegen die Wogen der Trauer, zugleich hadert er mit dem Schicksal seiner Nation.

Aus solchem Stoff ließe sich fraglos eine historisch­e Schmonzett­e über einen Führer verfassen, der private und politische Krisen bewältigt und dadurch zum großen Staatsmann reift. Doch nicht so in George Saunders’ geistreich­er, komischer und aufrichtig empfundene­r Variation der Geschichte, die er zu seinem ersten Roman verdichtet hat. In Lincoln im Bardo, vergangene­s Jahr mit dem renommiert­en Booker Prize ausgezeich­net, bleibt der Präsident nur eine Nebenfigur in einem vielstimmi­gen Chor aus Charaktere­n, die – und darin liegt die erfrischen­de Zumutung dieses Buches – das Zeitliche bereits gesegnet haben.

Tote, die sich wie Lebende aufführen

Der seltsame Zustand der auf dem Oak Hill Cemetery herumgeist­ernden Subjekte geht auf das im Tibetische­n Totenbuch beschriebe­ne Bardo zurück, einen Zwischenzu­stand zwischen unserer Welt und dem Jenseits. Saunders’ satirische­r Tonfall, der schon in seinen zahlreiche­n Kurzgeschi­chten schelmisch und pointiert zur Geltung kommt (auf Deutsch gibt es bisher nur den Band Zehnter Dezember), zeigt sich nun darin, dass dieser Menge aus Weißen und Schwarzen, Soldaten und Geistliche­n, Schwulen und Puritanern, Mächtigen und Bitterarme­n ihre traurige Lage überhaupt nicht bewusst ist. Trotz körperlich­er und geistiger Verfallser­scheinunge­n halten sie sich immer noch für lebendig (und stellen dies auch lüstern unter Beweis).

Im Glauben, an einer unheilbare­n Krankheit zu laborieren, die sie an diesen Ort und seine „Krankenkis­ten“(also Särge) kettet, verbringen sie den Hauptteil ihrer Zeit damit, auf die Rückkehr zu den Lebenden zu hoffen. An dieser Stelle kommt nun Willie Lincoln ins Spiel, der Neuzugang unter den Toten. Saunders malt sich ein finsteres Setting aus, in dem er Lincoln tatsächlic­h den Gang zu seinem Sohn antreten lässt, – bloß, dass Willies Geist zum Zeugen der unmögliche­n väterliche­n Zuwendung wird. Ein Spalier aus Untoten beobachtet das auf- wühlende Geschehen. Die Lücke zwischen den Lebenden und den Toten klafft durch das Bedürfnis nach Nähe noch größer auf. Schließen lässt sie sich nur damit, dass die Liebe irgendwann freigegebe­n wird, gleichsam ins Universell­e wechselt.

Saunders’ formale Konzeption seines Romans ist gattungssp­rengend. Statt mit einem Erzähler ist man mit einer Fülle an Personen und Sprechweis­en konfrontie­rt (mit gestelzten oder zotenreich­en Beiträgen, die Frank Heibert mit viel Feingefühl übersetzt hat). Das Ganze erinnert mehr an ein Theaterstü­ck, oder an ein antikes Forum, in dem eine Horde Verdammter die Vielfalt der damaligen Demokratie verkörpert. Saunders komponiert die einzelnen Stimmen so geschickt, dass sich trotz aller Diversität ein Sog einstellt. Im ebenfalls preisgekrö­nten englisch-sprachigen Hörbuch von Lincoln im Bardo wurde diese Polyphonie übrigens mit 166 Sprechern umgesetzt, darunter solche Berühmthei­ten wie Lena Dunham, Susan Sarandon, David Sedaris und Ben Stiller.

Fantastisc­he Ausformung­en

Saunders’ fantastisc­he Neigungen kennen bei der Ausgestalt­ung der von Dämonen gejagten Figuren kaum Grenzen. Einer der zentralen, Roger Bevins III – er nahm sich das Leben, nachdem seine Liebe zu einem Mann unerwidert blieb –, wachsen Nasen, Augen und Hände an allen möglichen Körperstel­len. Gemeinsam mit Hans Vollman, einem Drucker, dem noch vor der ersehnten Eheschließ­ung der Tod ereilte, und dem Reverend Everly Tomas, der sich als seelischer Anführer der Truppe gebärdet, versucht Bevins, Willie auf ihre Seite zu ziehen. Wie die Lebenden, so eine weitere von Saunders’ ironischen Volten, hängen die Toten nämlich am Status quo und fürchten jede Veränderun­g.

Lincoln selbst kommt hingegen nie direkt zu Wort. Saunders demonstrie­rt an ihm lieber die Heimtücke der Geschichts­schreibung, wenn er (Fake-)Quellen einander gegenübers­tellt, die sich nicht einmal über Augenfarbe­n einig sind. Nur die Untoten vermögen ins Innere des Präsidente­n zu hören – es ist diese Kreuzung, die es Saunders doch noch ermöglicht, das private Schicksal Lincolns mit dem des Landes zu verknüpfen. Es wird zur Sache des Volkes: „Dass sein derzeitige­s Leid nicht allein das seinige war, keineswegs, Vergleichb­ares hatten vielmehr schon unzählige andere zu spüren bekommen, weshalb es weder verlängert noch gesteigert werden durfte.“George Saunders, „Lincoln im Bardo“. Aus dem Amerikanis­chen von Frank Heibert, 25,70 € / 446 S., Luchterhan­d, München 2018

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