Der Standard

In der Finsternis

- Colette M. Schmidt

Wussten diese Menschen, wo sie sterben? Kannten sie ihren Tod? Diese Fragen stellte sich Claude Lanzmann in Bezug auf die in den Gaskammern der Nazis ermordeten Männer, Kinder und Frauen.

In memoriam Claude Lanzmann strahlte ORF 3 am Sonntag um Mitternach­t ein Interview mit dem letzte Woche verstorben­en Regisseur von Shoa aus. Hans Woller hatte Lanzmann 2015 in Paris getroffen, um mit ihm über seine Arbeit und das neunstündi­ge Werk Shoa zu sprechen. Lanzmann sagte, dass er keineswegs immer geplant hatte, einen Film über die Shoa zu machen, dass er von anderen darum gebeten worden sei und dass dann viele Jahre des Lesens und der Gespräche mit Zeitzeugen folgten. Zwölf Jahre arbeitete Lanzmann insgesamt an dem Film, der einen Einfluss auf die Rezeption des Holocaust hatte wie wenige vor ihm. Der Regisseur gab an, zunächst kein Konzept gehabt zu haben. Irgendwann habe er gewusst: „Es ist kein Film über die Überlebend­en, es ist ein Film über den Tod, über die Radikalitä­t des Todes.“

Dann passierte etwas, das in TV-Interviews nicht oft passiert. Lanzmann erzählte einige Minuten lang, ohne vom Interviewe­r unterbroch­en zu werden: Von den letzten Stunden ungarische­r Juden ab der Ankunft mit dem Zug in Auschwitz. Wie sie trotz düsterer Gedanken nicht glauben wollten, zum Sterben gekommen zu sein, wie sie nach Birkenau II und III verbracht wurden, welche Lügenschil­der sie auf dem Weg zu den Gaskammern in allen Sprachen lasen, wie sie sich auskleidet­en, wie sie – 3000 gleichzeit­ig – in die dunkle Kammer getrieben wurden. Wie sie in Finsternis starben. Schade, dass man das Interview erst spät nachts ausstrahlt­e. pderStanda­rd. at/TV-Tagebuch

Newspapers in German

Newspapers from Austria