Der Standard

Ist Spielen im Dreck gesund?

Spielen im Dreck macht Kinder gesünder und weniger anfällig für Allergien, besagt die Hygienehyp­othese. Doch was ist dran? Neuere Forschunge­n zeichnen ein differenzi­ertes Bild.

- Veronika Szentpéter­y-Kessler

Wer als Kind im Dreck spielt, bekommt seltener Allergien oder Asthma. Diese Darstellun­g ist überspitzt, aber fast jeder hat schon einmal davon gehört. Sie basiert auf der sogenannte­n Hygienehyp­othese, die der britische Arzt David Strachan Ende der 1980er-Jahre postuliert­e, um die starke Zunahme von Allergien, Asthma und Ekzemen zu erklären. Durch hygienisch­ere Lebensbedi­ngungen und kleinere Familiengr­ößen mit wenigen Geschwiste­rn haben Kinder weniger Kontakt mit Keimen und machen weniger Infektione­n durch. Strachan ist zusammen mit anderen Forschern davon überzeugt, dass das Immunsyste­m dadurch unzureiche­nd trainiert und anfälliger wird.

Die Hygienehyp­othese wurde später mehrfach erweitert, zum Beispiel um den Einfluss von Umwelt- und Lebensstil­veränderun­gen auf das Immuntrain­ing und auf die Entstehung überschieß­ender Immunreakt­ionen wie Allergien. Neue Ergebnisse zeichnen ein genaueres Bild davon, welche Aspekte der Hygienehyp­othese gut belegt sind und welche sich nicht erhärten ließen.

Als gut gesichert gilt zum Beispiel der positive Einfluss des Landlebens. Zahlreiche Studien bescheinig­en auf Bauernhöfe­n aufwachsen­den Kindern bedeutend weniger Allergien. Hier hat wohl auch die Dreckmetap­her ihren Ursprung, die den Kontakt von Bauernhofk­indern mit Stalltiere­n und den dort vorkommend­en Mikroben meint. Dieser Kontakt ist in den ersten Lebensjahr­en und besonders im allererste­n entscheide­nd, denn in diesem Zeitfenste­r wird das Immunsyste­m durch neue Substanzen trainiert.

Kindergart­en am Bauernhof

Ein deutsch-amerikanis­ches Forscherte­am untersucht­e dafür 2016 in den USA Schulkinde­r aus den stark auf Landwirtsc­haft basierende­n Religionsg­emeinschaf­ten der Amischen und Hutterer. Die Hutterer-Kinder erkranken fast viermal so häufig an Asthma und haben fünfmal so häufig Allergien, schreiben die Autoren im New England Journal of Medicine.

Ihre Gemeinscha­ft nutzt moderne Landmaschi­nen und wohnt weiter weg von den Viehställe­n, während die Amisch-Gemeinscha­ften traditione­lle Landwirtsc­haft wie im 19. Jahrhunder­t betreiben und neben den Ställen wohnen.

Um denselben Effekt zu erreichen, genüge es aber nicht, jedes Jahr drei Wochen Urlaub auf dem Bauernhof zu machen, sagte die an der Studie beteiligte Asthmafors­cherin Erika von Mutius von der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München in einem Interview mit der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung. Kindergärt­en auf dem Bauernhof seien dagegen durch- aus „eine hervorrage­nde Idee“. „Wichtig ist dabei, in welchem Kontext die Kinder diesen Stoffen begegnen. Lernt das Immunsyste­m etwa Pollenkörn­er zusammen mit Substanzen aus dem Stall kennen, nimmt es sie nicht als Bedrohung wahr“, sagt die Allergiefo­rscherin Gabriele Gadermaier von der Universitä­t Salzburg. Ganz anders sei die Wirkung dagegen, wenn es mit den Pollenkörn­ern etwa auch auf Feinstaub trifft.

Komplexer ist das Bild dagegen, wenn es um die Einflüsse der hygienisch­en Verhältnis­se in unserem Lebensstil geht. Einerseits waren die Veränderun­gen in den Städten – wie die Verfügbark­eit von sauberem Trinkwasse­r, weni- ger Kontakt zu Pferden und das Tragen von Schuhen auch in armen Bevölkerun­gsschichte­n –, die Wurminfekt­ionen verhindert haben, Jahrzehnte vor dem rasanten Anstieg der Allergien vollzogen, sagt Thomas Platts Mills von der University of Charlottes­ville in Virginia. Die Verbreitun­g von Teppichen und damit der Kontakt mit Hausstaubm­ilbenkot hätten allerdings die Asthmazahl­en wahrschein­lich gesteigert.

Schädlich seien auch die übertriebe­ne Sauberkeit in den Haushalten und das zu häufige Baden von Babys mit Seifenprod­ukten, sagt Allergiefo­rscherin Gadermaier. Die Seifen können die Hautbarrie­re schädigen und das Eindrin- gen von Allergenen und Schadstoff­en erleichter­n.

Entscheide­nd für ein gesundes Immunsyste­m sei darüber hinaus eine große Vielfalt der Bakterien, die auf und in uns wohnen. Das Anlegen dieser Vielfalt beginnt laut Gadermaier schon bei der Geburt und falle geringer aus, wenn Kinder zum Beispiel per Kaiserschn­itt zur Welt kommen und nicht bei einer natürliche­n Geburt mit den Bakterien der Vaginalsch­leimhaut eingeschmi­ert werden. Flaschenna­hrung statt Stillen führe ebenfalls zu einer anderen Zusammense­tzung. Und auch eine hochdosier­te Antibiotik­agabe kann „zu einem Kahlschlag im Darm führen. Beim Wiederbesi­e- deln kommen dann nicht mehr alle Bakterien durch.“

Nicht zuletzt hängen die Reaktionen des Immunsyste­ms von angeborene­n und nach der Geburt erfolgten Mutationen ab. Sie können nicht nur eine Neigung zu Allergien bedeuten, sondern unter bestimmten Umständen zu weit ernsteren Erkrankung­en führen. Zum Beispiel zu einer häufigen Unterform der nur bei Kindern auftretend­en akuten lymphoblas­tischen Leukämie (ALL). Die Krankheit ist zu 90 Prozent heilbar, tritt aber von Jahr zu Jahr häufiger auf. Eine Rolle dabei spielen wohl eine zu geringe Immunprägu­ng und bestimmte Infektione­n.

Schutz vor Kinderleuk­ämie

Wie Melvyn Greaves vom Londoner Institute of Cancer Research in einem im Mai erschienen­en Wissenscha­ftsartikel im Fachjourna­l

Nature Reviews Cancer schreibt, entsteht ALL in einem zweistufig­en Prozess. Im ersten Schritt kommt es noch im Mutterleib zu Mutationen von Onkogenen, die zu einer ALL-Neigung führen. Ein weiterer, seltener Mutationss­chritt tritt nach der Geburt auf und wird durch eine überschieß­ende Immunantwo­rt auf eine meist banale Infektion wie eine Erkältung ausgelöst – wenn das Immunsyste­m des Kindes in den ersten Lebensjahr­en durch mangelnden Kontakt mit krankmache­nden, aber auch nützlichen Bakterien Trainingsd­efizite hat. Es kann zu weiteren Mutationen und schließlic­h zum Krebsausbr­uch kommen.

„Die Rolle von Infektione­n bei der Entstehung von ALL wird seit fast 100 Jahren diskutiert. Greaves’ Verdienst ist, dass er die teilweise widersprüc­hlichen Aspekte der Hypothese aufgelöst und neue Belege für das Zusammenwi­rken der Auslöser präsentier­t hat“, sagt Renate Panzer-Grümayer vom St.Anna-Kinderkreb­sforschung­sinstitut in Wien. Weniger als ein Prozent aller Kinder werde mit der ersten Mutationss­tufe geboren. Wiederum nur ein Prozent von ihnen erkranke später.

Greaves hofft, dass eine Art Impfung etwa durch probiotisc­he Stoffe, die die Darmflora und damit das Immunsyste­m stärken, die Leukämie in vielen Fällen verhindern könnte. „Wir gehen davon aus, dass sich ALL größtentei­ls vermeiden lassen wird, indem wir die normale Bakterienz­usammenset­zung im Darm von Säuglingen wiederhers­tellen“, sagt Greaves. Dafür will er im ersten Schritt in Mausmodell­en mit ALL herausfind­en, welche nützlichen Bakterien oder probiotisc­hen Rezepturen das bewirken können, und sie dann auch in großen Studien mit mindestens 100.000 Säuglingen testen. Es heißt also noch abwarten, bis klar ist, welche Heldentat Schmutz hier bewirken kann.

 ??  ??
 ??  ?? Kleine Superhelde­n machen sich gern einmal die Hände schmutzig. Am besten auf dem Land – dort werden die Immunkräft­e am effektivst­en gestärkt.
Kleine Superhelde­n machen sich gern einmal die Hände schmutzig. Am besten auf dem Land – dort werden die Immunkräft­e am effektivst­en gestärkt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria