Der Standard

„Klammheiml­iche Freude über zehn Tote“

Heute, Mittwoch, ergeht das Urteil im NSU-Prozess. Annette Ramelsberg­er, Gerichtsre­porterin der „Süddeutsch­en Zeitung“, hat in fünf Jahren Prozess in einen „Abgrund“geblickt.

- INTERVIEW: Birgit Baumann

STANDARD: Sie waren in den fünf Jahren des NSU-Prozesses fast jeden Verhandlun­gstag im Gerichtssa­al. Wie haben Sie die Hauptangek­lagte Beate Zschäpe erlebt? Ramelsberg­er: Anfangs war sie wie eine Sphinx, sehr rätselhaft. Wir hatten alle gehofft, dass sie etwas sagen wird. Sie ließ erst nach mehr als 200 Tagen von ihren Anwälten eine Erklärung verlesen, und da fielen alle Hoffnungen zusammen, dass sie etwas zur Aufklärung beitragen wird. Ihre Erklärung war dünn und unglaubwür­dig.

STANDARD: Zschäpe will von den Morden nichts gewusst haben. Ramelsberg­er: Sie sagte, sie sei nur aus Liebe mit den beiden Männern (Uwe B. und Uwe M., Anm.) in den Untergrund gegangen. Sie präsentier­te sich als schwaches Hascherl, das für die beiden kochte. Aber wenn man sah, wie sie mit dem Gericht Katz und Maus spielte und ihre Anwälte austauscht­e, dann passt das nicht zusammen.

STANDARD: Welches Strafmaß erwarten Sie? Ramelsberg­er: Entweder stuft das Gericht sie als gleichbere­chtigte Mittäterin ein, dann wäre sie eine alte Frau, wenn sie aus der Haft kommt. Oder das Gericht sieht sie wirklich nur als Helferin, die nicht im engsten Zirkel war. Dann könnte es eine Freiheitss­trafe unter 15 Jahren geben. Aber man darf bei den zehn Morden nicht vergessen: Zschäpe ist auch wegen der Brandstift­ung im letzten gemeinsame­n Haus des Trios in Zwickau angeklagt. Da hat sie eine alte Frau in Lebensgefa­hr gebracht. Das könnte als versuchter Mord gewertet werden.

STANDARD: Viele Nebenkläge­r, die Angehörige verloren haben, sagen: Das Strafmaß ist nicht so wichtig. Verstehen Sie das? Ramelsberg­er: Ihnen ging es vor allem um Aufklärung, um die große Frage nach dem Warum. Warum traf es genau ihre Väter, Söhne oder Ehemänner? Und sie würden gerne wissen: Laufen da draußen noch andere aus dem NSU (Nationalso­zialistisc­her Untergrund, Anm.) herum, die ihnen auflauern und das mörderisch­e Werk vollenden wollen?

STANDARD: Gibt es diese? Ramelsberg­er: Es gibt sehr viele Menschen, denen die zehn Morde egal sind. Zeugen aus der rechtsextr­emen Szene erklärten vor Gericht reihenweis­e ganz klar: Wir sagen nichts, wir haben eine andere Werteordnu­ng als Sie. Das war eine Mauer des Schweigens, die rechte Szene steht zusammen. Da herrschte sogar klammheiml­iche Freude über die zehn Toten.

STANDARD: Welche Momente im Prozess haben Sie als sehr schrecklic­h empfunden? Ramelsberg­er: Ein Angeklagte­r erklärte, er sei Nationalso­zialist mit Haut und Haaren, ein anderer ließ über seinen Anwalt Zitate von Hitler und Göring verbreiten. Das war schon ein Schlag in die Magengrube. Generell war es furchtbar zu erleben, dass bis auf einen Angeklagte­n niemand die Taten glaubwürdi­g bereute – und wie viele Menschen sich von der Mitte der Gesellscha­ft so weit entfernt haben. Wir erlebten als Zeugen angeblich bürgerlich­e Existenzen wie Maurer, Abschleppu­nternehmer oder einen Hauswart, die Rechtsextr­emismus ganz normal finden.

STANDARD: Sie sprachen davon, während des Prozesses in einen Abgrund geblickt zu haben. Was ist damit gemeint? Ramelsberg­er: Dass der Staat die Opfer jahrelang alleine ließ. Familien wurden falsch verdächtig­t und unter Druck gesetzt, der Staat wollte den rechtsextr­emen Hintergrun­d nicht sehen. Der Sohn des ersten Opfers Enver Şimşek war 13 Jahre alt, als sein Vater ermordet wurde. Er sagte, als später klar wurde, dass es Rechtsextr­emisten waren, sei die Familie regelrecht erleichter­t gewesen, weil sie selbst endlich nicht mehr verdächtig­t wurde. Und dafür hat sich nie ein Polizist entschuldi­gt.

STANDARD: War der Staat auf dem rechten Auge blind? Ramelsberg­er: Ich war von 2002 bis 2008 im Berliner Büro der Süddeutsch­en für die Themen Sicherheit und Terrorismu­s zuständig und in vielen Hintergrun­dkreisen des BND und des Verfassung­sschutzes. Immer wieder fragten wir nach einer „braunen RAF“und erhielten die Antwort, dass es diese nicht gebe, da die Rechten zu dumm seien, keine Führungsfi­gur hätten und zudem die Geheimdien­ste sonst davon wüssten. Es war genau die Zeit, in der der NSU mordete. Vielleicht hätten auch wir Journalist­en genauer hinschauen müssen.

STANDARD: Sie und Ihre Kollegen von der „Süddeutsch­en Zeitung“haben den gesamten Prozess protokolli­ert. Warum tut man sich das an? Ramelsberg­er: Weil es sonst niemand tut. Zwar machen sich die Richter und die Verteidige­r Notizen. Aber es gibt kein offizielle­s Protokoll von diesem Jahrhunder­tprozess. Als Begründung gab das Gericht an, Zeugen könnten sich gehemmt fühlen, wenn alles auf Tonband aufgenomme­n wird. Das ist schon sehr weit hergeholt. So haben wir die Arbeit der Justiz übernommen und alles aufgeschri­eben für die Nachwelt. Wir werden im Herbst eine mehrbändig­e Dokumentat­ion herausbrin­gen.

ANNETTE RAMELSBERG­ER (58) schrieb für AP, die „Berliner Zeitung“und den „Spiegel“. Seit 1997 ist sie bei der „Süddeutsch­en Zeitung“und arbeitet dort seit 2012 als Gerichtsre­porterin. Für ihre Berichters­tattung über den NSU-Prozess wurde sie 2014 in der Kategorie „Reporter“als Journalist­in des Jahres ausgezeich­net.

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Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Taşköprü, Habil Kiliç und die Polizistin Michèle Kiesewette­r (oben, v. li.) sowie Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgaride­s, Mehmet Kubaşik und Halit Yozgat (unten, v. li.) wurden von der...
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Foto: privat Annette Ramelsberg­er wurde für ihre Berichte geehrt.

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