Der Standard

Nasse Höhle mit dünner Luft und fahlen Bildern

Die postherois­che Erzählung des thailändis­chen Unglücks

- Ronald Pohl

Das Prestige unterirdis­cher Höhlen als Herbergen für uns Menschen ist gering. Platons Höhlenglei­chnis handelt bekanntlic­h von der Wahrnehmun­g bewegter Schatten an den Wänden eines unterirdis­chen Hohlraums. Die Rede ist, ihrem philosophi­schen Gehalt nach, von Trug und Täuschung. Noch den Bildern aus der Höhle im thailändis­chen Tham Luang eignete ein ähnlich verzerrend­er, die Wirklichke­it verstümmel­nder Effekt.

Man sah, notdürftig beleuchtet, die Mienen der gestrandet­en Buben. Die bewegten Bilder belebten die Hoffnung auf die vollständi­ge Rettung aller Beteiligte­n. Als Belege einer ungebroche­nen Vitalität waren sie schlechthi­n unverzicht­bar für die mitbangend­e Weltöffent­lichkeit.

Schlund der Höhle

Im Moment ihrer bildlichen Erfassung wirkten die noch nicht aus dem Schlund der Höhle gezogenen Kinder aber auch merkwürdig preisgegeb­en. Sie glichen Zwischenwe­sen, wie nur flüchtig vom Licht der Erkenntnis berührt. Die „Erzählung“des Höhlenungl­ücks von Nordthaila­nd ist – nicht nur wegen des unzugängli­chen Terrains – seltsam blass und unplastisc­h geblieben. Nicht das Fehlen von Empathie galt es zu beklagen. Niemanden ließ das Schicksal der Buben unberührt, ihre Ausgesetzt­heit in weitgehend­er Finsternis. Die vollständi­ge Befreiung des Wild-Boars-Fußballtea­ms ist soeben vollbracht worden. Aber man muss hinzufügen: Ein Höhlentauc­her ist in Ausübung seines Metiers gestorben.

Die Geschichte der thailändis­chen Unterwelte­rkundung wird noch geschriebe­n werden. Sie widersetzt­e sich nur bis zum Augenblick ihrer akuten Klimax jener Form von Anteilnahm­e, die einer Vermittlun­g durch Bilder bedarf. Für Tham Luang gilt kein Darstellun­gsverbot. Kein Hinweis auf Pietät hat die Kameras der Weltöffent­lichkeit ausgeschal­tet.

Blinde Mächte

Drastisch fühlbar blieb eher ein Mangel an Personal, das nicht nur unsichtbar (und heilsam) tätig wird, sondern sich stolz zu seiner eigenen Präsenz – und somit zu seinem Schauwert – bekennt. Der Einsatzlei­ter unter seiner Schirmkapp­e, die in Monturen steckenden Taucher, sie alle lassen sich bloß über den Umweg der Abstraktio­n als Helden ansprechen. Nicht die Empathie versagt. Aber um wie viel weniger strahlt Heldenkraf­t, wenn sie dem technokrat­ischen Pluralwort der „Einsatzkrä­fte“weichen muss.

So geht es einem wie dem blinden Faust in Der Tragödie zweiter Teil, der sich als unternehme­nder Geist vom Spatengekl­irr einer schaufelnd­en Menge ergötzt fühlt und nicht weiß, dass bloß ein Grab – sein eigenes – ausgehoben wird. Uns Heutige drückt die Besorgnis, dass jemand, der gerettet werden möchte, sich blind den Mächten der Technokrat­ie ausliefern muss. Jedes Labyrinth bedarf eines Minotaurus, der seinen Schrecken versinnbil­dlicht. Man mag das Krisenmana­gement für seine Gelassenhe­it belobigen. Aber auch im 21. Jahrhunder­t kann es passieren, dass Medien Diagramme von Höhlen abbilden, wenn sie ausdrücken wollen, dass zwölf Buben und ihr Sportlehre­r unversehrt unter uns weilen.

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