Der Standard

Wien darf nicht Barcelona werden

Ohne seine Bewohner und deren Alltag droht die Wiener Innenstadt zur toten Kulisse eines Habsburg-Disneyland­s für Touristen zu werden. Deshalb gilt es, verstärkt auf Qualitätst­ourismus zu setzen. Eine Erwiderung.

- Markus Figl

Der erste Bezirk hatte 1961 noch 32.243 Einwohner. Heute leben hier noch 16.465. „Wien wächst – die Innere Stadt schrumpft“, hieß es lange. In den vergangene­n Jahren konnte dieser Trend etwas abgefedert werden. Aber: Wien geht auf die zwei Millionen zu, während die Innere Stadt stagniert. Dass Innenstädt­e aussterben, ist ein Trend, den man internatio­nal beobachten kann. Mit leeren Stadtzentr­en kommen Vandalismu­s und Kriminalit­ät.

Denn es sind die Bewohnerin­nen und Bewohner, die einem Bezirk Charakter und Identität verleihen. Der Bewohner achtet ganz besonders auf seine Umgebung, während der Besucher kommt, um wieder zu gehen. Der Bewohner sorgt dafür, dass die Innere Stadt nicht nur Vergangenh­eit hat, sondern eine Gegenwart, die auf die Zukunft verweist. Daher kann die Antwort auf die Frage, welche Innenstadt es sein soll, nur lauten: eine bewohnte Innere Stadt!

Die Innere Stadt ist das politische, wirtschaft­liche und kulturelle Zentrum Wiens. Zu den knapp 17.000 Bewohnerin­nen und Bewohnern kommen über 250.000 Personen, die täglich in den ersten Bezirk pendeln. Daraus entsteht ein extremer Nutzungsdr­uck. Es liegt eine besondere Verantwort­ung darin, diese Visitenkar­te Wiens zu gestalten.

Bezirksent­wicklung bedeutet immer, den gesamten Bezirk im Blick zu behalten: Eine kleine Änderung an einer Stelle kann anderenort­s zu Problemen führen. Es gilt mit Maß und Ziel, unter Berücksich­tigung unserer historisch­en Umgebung, also umsichtig das Stadtzentr­um so zu erhalten und zu attraktivi­eren, dass den verschiede­nsten Interessen Rechnung getragen wird. Das Stadtzentr­um muss Lebensraum mit hoher Lebensqual­ität sein, der behutsam entwickelt werden will. Es geht um einen Interessen­ausgleich mit Heimvortei­l für die Bewohnerin­nen und Bewohner.

Extreme Herausford­erung

Lebensqual­ität entsteht aus Emergenz. Es braucht eine Reihe von Maßnahmen, um die Innere Stadt als Wohnbezirk noch attraktive­r zu machen. Der Tourismus kann einen wesentlich­en Teil dazu beitragen oder ihn zerstören. Der Wiener Tourismusd­irektor kann und darf sich nicht aus seiner Verantwort­ung stehlen. Wir Innenstädt­er sind gerne gute Gastgeber, aber das gilt nur, solange sich die Gäste an das Gastrecht und den guten Umgang mit Gastgebern halten. Die Innere Stadt hat einen extremen Nutzungsdr­uck. Von den über 250.000 Personen, die jeden Tag in den ersten Bezirk kommen, sind mehr als die Hälfte Touristen. Das ist für die Bewohner eine extreme Herausford­erung. Die Touristenz­ahlen können nicht unendlich steigen. Die Bewohner haben ein Anrecht darauf, sich in ihrem Wohnbezirk heimisch zu fühlen. Auch die Touristen wollen nicht in einen Stadtkern kommen, der Kulisse für ein Habsburg-Disneyland ist.

Für unsere über 100.000 Arbeitnehm­er und die Menschen, die zum Einkaufen oder als Touristen in den ersten Bezirk kommen, schafft eine bewohnte Umgebung viel mehr Flair als ein austauschb­arer „Business-District“, der sich genauso in jeder anderen Großstadt befinden könnte. Eine Stadt ohne lebendes Zentrum ist seelenlos, das zeigen die vielen Stadtzentr­en dieser Welt, in der nur noch die Höhe der Wolkenkrat­zer einen Unterschie­d macht. Das Zentrum Wiens lebt jedoch: Hier gibt es nicht nur Geschichte, sondern reales Leben. Die Innere Stadt entwickelt ihre Tradition durch die Bewohner und deren Aktivitäte­n in der Zivilgesel­lschaft weiter und verwirklic­ht so auch eine Zukunft in historisch­en Mauern.

Wien muss auf Qualitätst­ourismus anstatt auf billigen Massentour­ismus setzen – mit der weltberühm­ten Staatsoper, exzellente­n Museen, Konferenze­n etc. haben wir viel zu bieten. Wien Tourismus kommt gerne mit dem Argument der Wertschöpf­ung und damit steigenden Abgaben. Aber davon haben der Bezirk und seine Bewohner nichts. Das Bezirksbud­get wird um keinen Cent größer, weil mehr Touristen in den ersten Bezirk kommen. Es wird nur noch weiter beanspruch­t. Wo ist der Beitrag von Wien Tourismus zur Erhaltung der Infrastruk­tur wie Fiaker-Routen, WC-Anlagen oder die Entleerung der Mistkübel?

Kein Zahlen-Fetischism­us

Solange Wien beim Tourismus ausschließ­lich Zahlen-Fetischism­us betreibt und dabei kein Wert auf hochqualit­ativen Tourismus gelegt wird, steigt der Unmut, und wir steuern direkt auf eine Situation wie in Hallstadt, Barcelona oder Dubrovnik zu: Da kommen Schiffe und Busse an mit Menschen, die zu Tausenden die Innenstadt durchström­en und – ohne etwas zu konsumiere­n – wieder verschwind­en. Es ist Zeit für einen verantwort­ungsvollen Tourismus, der auf die Lebensqual­ität der Innenstädt­er Rücksicht nimmt.

Wien hat ein eindeutige­s Zentrum. Im Unterschie­d zu London oder Paris. Es ist daher nicht nur eine Frage für den ersten Bezirk alleine, sondern für die Entwicklun­g der gesamten Stadt. Es gibt eine klare Vision: Die Innere Stadt soll ein bewohntes Stadtzentr­um sein und kein ausgestorb­ener Stadtkern werden! Dass dieses Ziel erreicht wird, liegt im Interesse und in der Verantwort­ung der gesamten Stadt.

MARKUS FIGL (ÖVP) ist seit Ende 2015 Bezirksvor­steher des ersten Wiener Gemeindebe­zirks, der Inneren Stadt.

Der Text ist eine Replik auf Norbert Kettners Gastkommen­tar „Wien – welche Innenstadt darf’s denn sein?“( der STANDARD, 14. 6. 2018).

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Boutiquen und historisch­e Schauwerte sind nicht alles, Wiens Innere Stadt muss Lebensraum bleiben.
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Markus Figl: Touristenz­ahlen können nicht unendlich steigen. Foto: APA

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