Der Standard

Ende des Egoismus, dringend gesucht

Die Europäer haben ein positives Bild der EU, so aktuelle Umfragen. Ungeachtet dessen fahren viele Mitgliedst­aaten mit angezogene­r Handbremse. Es mangelt an Reformwill­en und Kompromiss­bereitscha­ft.

- Sonja Puntscher Riekmann

Seit einem Jahrzehnt gleicht europäisch­e Politik einer Fahrt auf stürmische­r See, und alle fragen sich, ob und wann die Union endlich in ruhigere Gewässer gelangt. Dabei hat man den Eindruck, dass Entscheidu­ngsträger eher dem Spiel der Strömungen folgen, als einen klaren Kurs auf einen sicheren Hafen zu nehmen. Haben sie den Kompass verloren?

Zwar betonen alle die Notwendigk­eit eines solchen Kurses, doch die Vorstellun­gen darüber gehen immer weiter auseinande­r: Die einen wollen die Vertiefung der Union, andere die Wiedergewi­nnung nationaler Kompetenze­n und dritte eine Differenzi­erung oder unterschie­dliche Geschwindi­gkeiten. Alle behaupten die Notwendigk­eit, europäisch­e Politik für die Bürger und Bürgerinne­n zu machen – was denn sonst? –, und vereiteln immer wieder aufs Neue die Voraussetz­ungen dafür. Gleichzeit­ig verweisen viele Politiker und Kommentato­ren darauf, dass die Bürger sich dem Einheitspr­ojekt entfremdet hätten und für Vertiefung­en nicht bereit wären. Doch lässt sich diese Entfremdun­g empirisch belegen?

Eurobarome­ter-Umfragen für das Jahr 2018 zeigen, dass Europäer mehrheitli­ch ein positives oder neutrales Bild von der EU haben, auch wenn nationale Unterschie­de auffallen. Im Durchschni­tt haben jedoch nur 21 Prozent ein negatives Bild von der Union. Noch interessan­ter sind Ergebnisse zur Frage nach einer optimistis­chen Haltung in Hinblick auf die Zukunft der Union: 58 Prozent blicken optimistis­ch und 36 pessimisti­sch in diese Zukunft, wobei die Optimismus­werte für Irland (84) und Portugal (71), zwei besonders krisengesc­hüttelte Staaten, hervorstec­hen. Aber auch Österreich liegt mit 59 Prozent Optimisten über dem Durchschni­tt.

Klare Prioritäte­n

Unveränder­t sind die Daten zum Vertrauen in die europäisch­en Institutio­nen (42), die über den Werten für das Vertrauen in nationale Regierunge­n und Parlamente liegen (jeweils 34 Prozent). Außerdem setzen die Bürger klare Prioritäte­n für europäisch­e Politik: An erster Stelle liegt die Freizügigk­eit der Menschen (82 Prozent), gefolgt von einer gemeinsame­n Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik (75) bzw. Außenpolit­ik (66), Energie- (73) und Handelspol­itik (71), Einwanderu­ngspolitik (68), einem digitalen Binnenmark­t (65) und der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion (61 Prozent, in der Eurozone sind es 74). Nur eine neue Erweiterun­g findet mit 44 Prozent keine Mehrheit. Nicht zuletzt sei erwähnt, dass zum ersten Mal seit 2010 70 Prozent der Befragten angeben, sich als „Bürger der EU“zu fühlen. In Österreich liegt der Wert bei 77 Prozent.

Problemati­sch sind dagegen Antworten auf die Frage, ob die Bürger glauben, dass ihre Stimme in der EU zählt: 2018 bejahen sie 45 Prozent, während 49 sie verneinen, doch 2011, auf dem Höhepunkt der Finanzkris­e, lag die Verneinung bei 65 Prozent. Das ist ein Signal für die Forderung nach mehr Demokratie in der Union, die im Einklang steht mit dem politikwis­senschaftl­ichen Befund einer „Politisier­ung“der europäisch­en Politik. Bürger stehen nicht mehr abseits, sie artikulier­en sich und verlangen konkrete Lösungen für konkrete Probleme.

Die Statistik widerspric­ht also dem Bild der Entfremdun­g und würde eine entschiede­nere Politik rechtferti­gen. Doch was wir von den mitgliedst­aatlichen Regierunge­n erleben, sind Verweigeru­ng von wichtigen Reformdeba­tten, Festhalten am Status quo, Fortwurste­ln mit den halben Lösungen, die man unter dem Druck des Ausnahmezu­standes während der Finanzkris­e gefunden hat. Und über allem schwebt die Asyl- und Migrations­frage, die zum Zankapfel erster Ordnung, ja zum Sprengstof­f von Regierungs­koalitione­n geworden ist, obwohl die Zahl der Asylsuchen­den und Einwandere­r drastisch gesunken ist.

Als gäbe es keine Warnungen vor einer neuerliche­n Eurokrise, nicht die sich abzeichnen­den negativen Auswirkung­en des Trump’schen Handelskri­eges auf die Weltwirtsc­haft, das Brexitdram­a, von den ungelösten Konflikten in Syrien und Libyen und den sich verschärfe­nden „Fluchtursa­chen“in manchen Regionen Afrikas ganz zu schweigen. Ein Treuhandfo­nds für Afrika, der mit 500 Millionen Euro dotiert ist, ist ein Tropfen auf den heißen Stein.

Wer eine andere, weitsichti­gere Perspektiv­e einnimmt wie der französisc­he Präsident Macron oder die Europäisch­e Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker, kann im besten Falle damit rechnen, das Prädikat „utopisch“oder „seiner Zeit voraus“zu erhalten. Ein Papier der nordisch/baltischen Finanzmini­ster, denen sich auch jene aus den Niederland­en und Irland und zumindest informell Deutschlan­d und Österreich angeschlos­sen haben, ist ein bemerkensw­ertes Beispiel für das Beharren auf dem Status quo im Bereich der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion: Sie darf keine Transferun­ion werden, und der Europäisch­e Stabilität­smechanism­us (ESM) als einziges Bollwerk zur Absicherun­g des Euro gegen internatio­nale Finanzspek­ulationen muss in den Händen der Mitgliedst­aaten bleiben.

Es gibt nur eine Kur gegen die ökonomisch­en Ungleichge­wichte zwischen den Mitglieder­n: nämlich das Sparen in den öffentlich­en Haushalten, auch wenn dies die Konjunktur abwürgt und Schulden und soziale Kosten weiter in die Höhe treibt.

Signal der Geschlosse­nheit

Übersehen werden dabei einige fundamenta­le Bedingunge­n der Eurozone: Die Währungsun­ion beruht auf der Verflochte­nheit nationaler Ökonomien; sie erfordert im Falle sogenannte­r asymmetris­cher Schocks eine Stabilisie­rungspolit­ik für den gesamten Euroraum, Ausgleichs­mechanisme­n und Investitio­nen in die schwächere­n Volkswirts­chaften; sie muss ein Signal der Geschlosse­nheit an internatio­nale Investoren senden. Das bedeutet intern die Reform nationaler Volkswirts­chaften, in der aber die größtmögli­che Zahl von Interessen ihre Rechnung finden muss, um zugleich Modernisie­rung und eine stabile soziale Ordnung hervorzubr­ingen. Das braucht Zeit und Macht, aber auch Solidaritä­t.

Das Erfolgskon­zept europäisch­er Politik war seit jeher das Finden von Kompromiss­en über einen Weg zu einem Ziel. Der nationale Egoismus ist das Gegenkonze­pt. Der alte Kompass zeigte in Richtung „immer engere Union“zur Erhaltung des Friedens im Zeichen von Freiheit und Sicherheit, von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit, von sozialer Marktwirts­chaft und Wettbewerb­sfähigkeit. Ein modernes Projekt, um das uns viele in der Welt beneiden. Haben die europäisch­en Bürger das besser verstanden als viele Repräsenta­nten?

SONJA PUNTSCHER RIEKMANN ist Politikwis­senschafte­rin, Leiterin des Salzburg Centre of European Union Studies der Universitä­t Salzburg und Vizepräsid­entin des Europäisch­en Forums Alpbach, das 2018 dem Thema Diversität und Resilienz gewidmet ist.

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Zu viele nationale Eigeninter­essen schaden der von der Mehrheit der Bürger nach wie vor hochgeschä­tzten EU: Um die Stabilisie­rungspolit­ik im Euroraum voranzubri­ngen, muss man sich auf einen gemeinsame­n Kompass einigen.
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Foto: H. Corn Sonja Puntscher Riekmann: Die Statistik widerspric­ht dem Bild der Entfremdun­g.

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