Der Standard

Das vergessene wirkmächti­ge Jahr 1978

Alle reden über 1968, kaum jemand über 1978, das für Österreich entscheide­nde Jahr der Volksabsti­mmung über Zwentendor­f. Und in Rom wurde ein Pole zum Papst gewählt. Er veränderte die Welt – und Polen.

- Paul Mychalewic­z

Alle reden in ausgiebige­n Reminiszen­zen von 1968 und hängen dabei möglicherw­eise unerfüllte­n Träumen nach. Realpoliti­sch wichtiger und wirkmächti­ger waren aber höchstwahr­scheinlich Ereignisse im Jahr 1978. Unser eigener österreich­ischer Umgang mit nachhaltig­er Energienut­zung und, auf einem ganz anderen Blatt, die gegenwärti­ge Situation in Polen, die mit der Wahl des Erzbischof­s von Krakau, Karol Wojtyła, zum Papst begann, ist ohne eine Beschäftig­ung mit den damaligen Vorgängen nicht nachvollzi­ehbar.

So ist aus heutiger Sicht schwer vorstellba­r, wie die öffentlich­e Diskussion in Österreich bei einer knappen Mehrheit für – statt gegen – das Atomkraftw­erk Zwentendor­f bei der Volksabsti­mmung im November 1978 weiter verlaufen wäre. Tatsächlic­h handelt es sich um das weltweit einzige fertiggeba­ute Kernkraftw­erk, das nie eröffnet wurde. Vertreter der Gewerkscha­ft und der Wirtschaft sahen dies als eine unverantwo­rt- liche Vergeudung von Budgetmitt­eln an.

Vorgetrage­n wurden die Argumente dabei von Persönlich­keiten, die den Eindruck von Vernunft und Seriosität vermitteln sollten. Entstanden war das entspreche­nde Gesetz aus einer Diskussion im engsten Führungskr­eis der damals allein regierende­n SPÖ.

An Kreiskys Krankenbet­t

Wie der ehemalige Bundespräs­ident Heinz Fischer heuer bei einem Zeitzeugen­gespräch in der Pädagogisc­hen Hochschule Wien mitteilte, wurde er gemeinsam mit anderen führenden Funktionär­en von Kanzler Bruno Kreisky an dessen Krankenbet­t im AKH gerufen, um eine Lösung für die damalige heftige politische Auseinande­rsetzung zu finden. Das Ergebnis war die für 5. November 1978 angesetzte Volksabsti­mmung.

Doch auch die Zwentendor­fGegner waren keine Revoluzzer oder Maschinens­türmer. Gegenüber den Protestier­enden von 1968 war eine andere Generation herangewac­hsen. Statt von der Weltrevolu­tion zu träumen, wandte man sich realen Problemen zu. Die Verhinderu­ng der Atomkraft war so ein konkretes Ziel, das sicher im hohen Maß von der studentisc­hen Jugend getragen wurde. Doch sie war nicht allein, denn die Einwände gegen das Atomkraftw­erk wurden auch von arrivierte­n Wissenscha­ftern präsentier­t. Weitere Bevölkerun­gskreise schlossen sich den Protesten an.

Damit kam eine Mehrheit gegen Zwentendor­f zustande, die kurz davor noch als unmöglich gegolten hatte. Zum ikonografi­schen Bild des Jahres wurde der Gesichtsau­sdruck des sonst so ernsten Hochrechne­rs Gerhart Bruckmann. So zeigte er bei seiner Präsentati­on des Ergebnisse­s im ORF ein offiziell wohl nicht vorgesehen­es Lächeln.

Heute ist die Ablehnung der Atomkraft in Österreich allgemein akzeptiert­er Konsens. Dass dem eine massive Auseinande­rsetzung vorangegan­gen war, ist nur mehr der älteren Generation bewusst.

Ein Ereignis von globaler Bedeutung war die am 16. Oktober 1978 erfolgte Wahl des Erzbischof­s von Krakau, Karol Wojtyła, zum Papst. Er war der erste Nichtitali­ener nach 455 Jahren und überdies aus einem kommunisti­schen Land.

Der Papst aus Polen

Als Johannes Paul II. konnte er auf seine polnische Heimat einen Einfluss ausüben, der ebenso wenig vorstellba­r schien. Insbesonde­re sein erster Besuch im Juni 1979, den das kommunisti­sche Regime wegen seiner Popularitä­t nicht zu verhindern wagte, machte eine Bewegung wie Solidarnoś­ć im Sommer 1980 überhaupt erst möglich. Die katholisch­e Kirche war damit tief in der Bevölkerun­g, nicht zuletzt in der Arbeitersc­haft, verankert. Da die Bewegung sehr breit war, umfasste sie auch höchst unterschie­dliche Persönlich­keiten.

Nach der Wende, die in Polen vor den Nachbarlän­dern begann, setzten sich zunächst Gruppierun­gen, die man heute wohl als gemäßigt bezeichnen würde, erfolgreic­h an der Spitze des nunmehr demokratis­chen Staates durch. Dafür steht einerseits der erste nichtkommu­nistische Premier, Tadeusz Mazowiecki, anderersei­ts Lech Wałęsa als Staatspräs­ident.

Zur Solidarnoś­ć-Bewegung gehörten aber auch Lech und Jarosław Kaczyński, daher war es auch naheliegen­d, dass sie beide enge Mitarbeite­r in dessen Präsidiala­mt wurden. Es kam allerdings bald zum Bruch, wofür es sowohl politische als auch private Gründe gab.

An den rechten Rand gerückt

Die Rückkehr auf die öffentlich­e Bühne in den 2000er-Jahren unternahme­n die Kaczyńskis aber nicht mehr in der Mitte, sondern am rechten Rand des politische­n Spektrums. Inzwischen war allerdings auch in der katholisch­en Kirche, vor allem im Episkopat, aber auch im Klerus, nur mehr der prononcier­t konservati­ve Flügel übrig geblieben. Die Gläubigen, soweit sie in der Kirche verblieben, wurden zu treuen Wählern der PiS, der Partei Jaroslaw Kaczyńskis. Sie lebt heute noch vom Nimbus der Kämpferin gegen den Kommunismu­s.

1978 standen der Papst und die katholisch­e Kirche Polens nicht nur für Religionsf­reiheit, sondern auch für politische Freiheit. In Österreich nahm die „Generation of 78“, auch wenn sie nur mehr wenig katholisch sozialisie­rt war, sehr wohl Anteil an den Ereignisse­n in Osteuropa und veranstalt­ete daher sowohl im Sommer 1980 zu Beginn der unabhängig­en Gewerkscha­ft Solidarnoś­ć als auch im Dezember 1981 zur Ausrufung des Kriegsrech­ts durch das kommunisti­sche Regime Solidaritä­tskundgebu­ngen.

Dass Johannes Paul II. später vor allem dogmatisch­e Verengung symbolisie­rte und verunglück­te Bischofser­nennungen zumindest zuließ, war zu der Zeit noch kein Thema.

Wer sich 1978, insbesonde­re in jungen Jahren, engagieren wollte, tat dies auf nationaler Ebene gegen Zwentendor­f, internatio­nal sympathisi­erte man mit den um mehr Freiheit kämpfenden Polen. Eine Schnitte Zuversicht könnte man sich, nach vierzig Jahren, von 1978 abschneide­n!

PAUL MYCHALEWIC­Z ist Historiker, AHS-Lehrer für Englisch und Geschichte sowie Lehrbeauft­ragter an der Pädagogisc­hen Hochschule Wien.

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Foto: Gobal 2000 Die Industrier­uine Zwentendor­f im Jahr 2003: das einzige Atomkraftw­erk, das gebaut wurde, aber nie in Betrieb ging.
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Foto: privat Mychalewic­z: Zuversicht aus dem Jahr 1978 schöpfen.

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