Der Standard

Würdiger Gastgeber

Russland hat die Fußballwel­tmeistersc­haft zur Imagepolit­ur genützt

- André Ballin

Es war eine Weltmeiste­rschaft der Überraschu­ngen: Sicher zählte Frankreich schon vor dem Turnier zu den Favoriten, Kroatien als zweiten Finalisten hatten hingegen die wenigsten Fachleute und Fans auf dem Zettel. Das Ausscheide­n des amtierende­n Weltmeiste­rs Deutschlan­d schon in der Vorrunde darf getrost als Sensation gewertet werden, das Scheitern der Spanier und Argentinie­r im Achtelfina­le und der Brasiliane­r im Viertelfin­ale zumindest als unerwartet. Überrasche­nd souverän hat aber Russland während der WM agiert – nicht nur auf dem Feld, sondern auch als Organisato­r.

Sicherheit­sbefürchtu­ngen, hervorgeru­fen durch Gewaltexze­sse russischer Hooligans vor zwei Jahren bei der Europameis­terschaft in Frankreich, erwiesen sich ebenso als unbegründe­t: Daheim waren die Radaubrüde­r bestens unter Kontrolle. Zugegeben: Dieser Punkt ist für RusslandKe­nner nicht überrasche­nd. Dass Geheimdien­ste und Sicherheit­sorgane in Moskau nicht nur gigantisch­e Ausmaße haben, sondern im Einsatzfal­l auch effizient funktionie­ren, ist bekannt. Dass die Silowiki aber nicht nur wachsam, sondern auch freundlich und auskunftsb­ereit sein können, ist bemerkensw­ert. „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, daran könnten sich die Menschen in Russland, egal ob Einheimisc­he oder Ausländer, gewöhnen. berhaupt war die freundlich­e Atmosphäre überrasche­nd, mit der Ausländer in Russland aufgenomme­n wurden. Die aggressive nationalis­tische Rhetorik auf den TVBildschi­rmen in den vergangene­n Jahren ließ nicht unbedingt darauf schließen, doch glückliche­rweise wurde sie vor der WM zurückgefa­hren. Die Russen zeigten sich als hervorrage­nde Gastgeber und begeistert­e Fußballfan­s – warmherzig, offen und unvoreinge­nommen. Und sie zeigten Gefallen an der neuen Offenheit, zeigten Interesse an neuen Freundscha­ften und Beziehunge­n.

Die WM ist damit eine große Chance für Russland: Aus sportliche­r Sicht kann sich der Fußball im Land aus seinem Nischendas­ein befreien und dafür die zusätzlich­e Infrastruk­tur nützen. Darüber hinaus kann die WM der Anfang zur Überwindun­g von Isolierung und Entfremdun­g seit der Ukraine-Krise sein.

Nicht unbedingt auf politische­r Ebene: Natürlich hat der Kreml durch die reibungslo­se Durchführu­ng der WM einen Imagegewin­n erzielt, doch gerade für Moskau sind die Ergebnisse nicht eindeutig: Einerseits wurde das Nationalge­fühl durch die unerwartet­en Erfolge der Sbornaja gestärkt, anderersei­ts misslang der Versuch, mit der WM von der unpopuläre­n Rentenrefo­rm abzulenken.

Außenpolit­isch hat sich Kreml-Chef Wladimir Putin beim Shakehands mit anderen Staatsführ­ern in den Stadien ohnehin erstaunlic­h zurückgeha­lten. Dass die WM Moskau künftig politi- sche Verhandlun­gen erleichter­n wird, ist unwahrsche­inlich. Wichtiger ist jedoch, dass auf persönlich­er Ebene Menschen aus Russland und dem Westen zueinander­gefunden haben und beiderseit­s bestehende Vorurteile abbauen konnten.

Konservati­ven Kräften in Russland mag diese Integratio­n zu weit gehen; so warnte eine Duma-Abgeordnet­e Russinnen explizit vor „Sex mit Ausländern“. Der Abbau von Feindbilde­rn – sei es im Bett oder beim Bier an der Bar – ist jedoch, mehr noch als die hinterlass­ene Infrastruk­tur, das wichtigste Erbe dieser Weltmeiste­rschaft.

Newspapers in German

Newspapers from Austria