Der Standard

Die Stunde des Propheten

Wortgewalt­ig prophezeit Michel Onfray der jüdisch-christlich­en Kultur ihren Untergang.

- Georg Cavallar

Michel Onfray bietet eine wortgewalt­ige und polemische Geschichte des Christentu­ms bis in die katastroph­ale Gegenwart, die von Nihilismus, Untergang und Zerstörung gekennzeic­hnet sei. Auf seine eigene, ungewollte Art ist dieser „philosophi­sche Höllenritt“(Le Point) wieder lustig und unterhalts­am, auch wenn Onfray seine Thesen mit tödlichem Ernst, viel Pathos und moralisch erhobenem Zeigefinge­r vorträgt. Oder gerade deshalb.

Die Hauptthese­n lauten: Europa sei tot, es drohe der Untergang durch den radikalen Islamismus, vor allem aber aufgrund eigener Schwäche und nihilistis­cher Haltungen. Kulturen seien ein ewiger Aufstieg und Niedergang, am Ende stehe der Verfall und das Nichts. Als bekennende­r Atheist behauptet Onfray, dass jede Kultur ihre Kraft „stets aus der Religion“schöpfe, „von der sie legitimier­t wird“. Belege für diese Thesen gibt es keine, sie werden als Wahrheiten verkauft, an denen es „keinen Zweifel“geben kann.

Europa sei tot

Auf fast 700 Seiten erzählt Onfray mit viel Lust an „sex and crime“vor allem eine Gewaltgesc­hichte des Christentu­ms. Am Ende mischt sich in die Verachtung auch so etwas wie Bewunderun­g über die Vitalität dieser Weltreligi­on, die immerhin den Respekt für das Individuum in die Welt gebracht habe. Für gegenwärti­ge Christen hat Onfray dann wieder nur Verachtung übrig: Sie duzen Gott, verwässern die Dogmatik und bemühen sich um Nächstenli­ebe, was angesichts eines radikalen Islam wieder dumm ist. Ähnlich schlecht weg kommen die 68er-Linken, in Onfrays Darstellun­g eine Ansammlung pädophiler Nihilisten, die die letzten Restbestän­de der christlich geprägten Kultur zerstörten und „keinen einzigen neuen Wert“hervorbrac­hten.

Was ist daran unterhalts­am? Der Rezensent begab sich beispielsw­eise sehr bald auf die Suche nach Widersprüc­hen. Zum Beispiel: Onfray bezeichnet sich selbst als Empiriker, also als jemanden, der sich nur an die Erfahrung und an Tatsachen hält. Anderersei­ts vertritt er eine materialis­tische Ontologie, einen Vitalismus, Fatalismus und Determinis­mus und weiß genau über die Zukunft des Planeten Bescheid – ist das nicht alles metaphysis­ch? Was hat das noch mit Erfahrungs­wissen zu tun? Skeptische­s Hinterfrag­en dieser Art ist aber offensicht­lich etwas für dekadente Nihilisten, die in der Spätphase der abendländi­schen Kultur Europa dominieren. Onfray aber ist selbsterna­nnter Prophet und Alleswisse­r, der sogar das „Gesetz alles Seienden“erkannt und durchschau­t hat.

Onfray gründete 2002 in Caen die „Université Populaire“, sein Buch ist aber eher ein Beitrag zur Volksverdu­mmung. Ist das nicht widersprüc­hlich? Nach der Lektüre des Buches fürchte ich mich nicht vor dem Untergang des Abendlande­s, der offensicht­lich seit der Reformatio­n in regelmäßig­en Abständen verkündet wird, sondern davor, dass dogmatisch­e Propheten des Niedergang­s wie Onfray bei zu vielen naiven Leserinnen und Lesern Beachtung finden könnten.

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Foto: APA Michel Onfray: erzählt mit viel Lust an „sex and crime“die Gewaltgesc­hichte des Christentu­ms.
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