Der Standard

Europa bleibt der Sehnsuchts­ort

Migration von Afrika nach Europa wird zunehmend erschwert. Dennoch ist der Wunsch in Benin-Stadt, Nigerias Auswandere­rhochburg, ungebroche­n, in Richtung Norden zu gehen.

- Katrin Gänsler aus Benin-Stadt

Ken Ekene wartet vor einem Supermarkt in Benin-Stadt, Provinzhau­ptstadt von Edo im Süden Nigerias, auf einen Bekannten und schaut dem Feierabend­verkehr zu. Das Hupen und der Gestank der Abgase sind fast unerträgli­ch. „Migration ist für mich kein Thema.“Fünf Minuten später sagt er, dass er gerne nach Europa reisen würde. „Aber wie komme ich dorthin?“In keiner anderen Region Nigerias, mit mehr als 190 Millionen Menschen Afrikas einwohnerr­eichstes Land, wird der Wunsch so oft ausgesproc­hen. Er wird nur nicht so genannt, sondern heißt Italien, Spanien oder Deutschlan­d.

Dorthin kam auch die 23-jährige Mary (Name geändert) Anfang 2017. Heute lebt sie gut zwei Autostunde­n von Benin-Stadt entfernt und jobbt in einem Krankenhau­s. Es weiß nur eine Handvoll Menschen, dass sie zurück ist. Damals wurde sie von einer Bekannten gefragt, ob sie nach Europa gehen wolle. Wissend, dass angebliche Jobverspre­chen oft in Zwangspros­titution enden, willigte sie ein: „Ich habe ihr vertraut.“Es folgten Monate in Deutschlan­d in verschiede­nen Bordellen. Dort, so lau- tet der Trick, sollte sie die Kosten für ihre Reise nach Europa abarbeiten, sagt sie: „50.000 Euro. Ich brauchte Zeit, um zu verstehen, wie viel Geld das ist.“Irgendwann wurde sie jedoch beim Einkaufen von der Polizei aufgegriff­en und schließlic­h abgeschobe­n. Die junge Frau spricht so sachlich wie möglich über die Zeit in Europa: „Ich bin froh, dass ich mich nicht mit Aids angesteckt habe oder schwanger wurde.“Heute weiß Mary oft nicht, wie sie mit ihrem Gehalt von knapp 38 Euro überleben soll.

In Libyen gestrandet

Es wird geschätzt, dass seit Jahresbegi­nn etwa 3500 Migranten zurück nach Nigeria gekommen sind. Ein Großteil, der den Landweg genommen hat, war in Libyen gestrandet. Seit dem Video des TVSenders CNN über Sklavenmär­kte werden zahlreiche Nigerianer mithilfe der Regierung, vor allem aber der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) zurück in die Heimat geflogen. Nichtregie­rungsorgan­isationen (NROs) gehen davon aus, dass 60 bis 70 Prozent aus Edo stammen. Dennoch bleibt der Wunsch, nach Europa zu gehen, riesengroß. Er wird oft genährt von den wenigen Erfolgsges­chichten. Eine ist auch die von Ken Ekenes Schwester, die vor knapp 20 Jahren nach Italien ging und heute offiziell mit ihrer Familie dort lebt. Wie sie dorthin kam, etwa als Opfer von Menschenhä­ndlern, habe die Familie allerdings nie besprochen.

Ken Ekene sagt, auch er würde jeden Job in Europa annehmen. Hauptsache, raus aus dem Chaos. Das Nationale Statistikb­üro (NBS) schätzt, dass knapp 62 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos oder geringfügi­g beschäftig­t sind. In der Gruppe bis 34 sind es immerhin noch 34 Prozent. Ohne Kontakte ist es schwierig, eine Arbeit zu finden. Ein funktionie­rendes System für Minikredit­e und Gründerför­derung gibt es nicht.

Für Abieyuwa Oyemwense, Geschäftsf­ührerin der Sonderbehö­rde gegen den Menschenha­ndel, ist das aber nur Teil der Erklärung. „Im landesweit­en Vergleich gehört Edo nicht zu den ganz armen Regionen.“Deshalb wolle die Behörde, die im August 2017 gegründet wurde, erst noch ermitteln, was die Menschen zum Gehen veranlasst. Dabei gibt es diese Tendenz seit Jahrzehnte­n. NROs, die zum Menschenha­ndel arbeiten, erzählen, dass sie das Phänomen seit mehr als 30 Jahren beobachten. Auf die Frage, ob die Gründung der Spezialein­heit Jahre zu spät kommt, schüttelt Abieyuwa Oyemwense energisch den Kopf. Schwierigk­eiten, so sagt sie, müssen auch als solche akzeptiert werden, um Konsequenz­en zu ziehen und zu handeln. Auch Druck aus Europa habe es nicht gegeben.

Bewaffnete Ausschreit­ungen

Der Bundesstaa­t Edo ist jedoch eine Ausnahme. Migration und Menschenha­ndel werden anderswo im Land kaum diskutiert. Im Februar überrascht­e Senatspräs­ident Bukola Saraki mit seiner Teilnahme an einer Gesprächsr­unde in Benin-Stadt zu diesem Thema. Die Flüchtling­sboote Aquarius und Lifeline, die in den vergangene­n Wochen auf dem Mittelmeer ausharren mussten, wurden zwar zur Kenntnis genommen und die Menschen an Bord bedauert, jedoch nicht mehr.

Nigeria muss schon vor Ort zahlreiche Konflikte bewältigen. Das Landesbüro von Amnesty Internatio­nal schätzt, dass seit Jahresbegi­nn mehr als 1800 Men- schen durch bewaffnete Ausschreit­ungen ums Leben gekommen sind. Die Farmer-Viehhirten-Krise dominiert gerade jede Diskussion. Migration wird zudem anders bewertet als in Europa. „Migration ist sehr menschlich“, sagt etwa der katholisch­e Erzbischof von BeninStadt und Präsident der Bischofsko­nferenz, Augustine Obiora Akubeze (61). Es sei sehr verständli­ch, im Ausland nach besseren Lebensbedi­ngungen zu suchen. Häufiger als Europa sind jedoch westafrika­nische Nachbarlän­der das Ziel.

Davon profitiere­n auch Daheimgebl­iebene durch Rücküberwe­isungen. Die Weltbank schätzt, dass Nigerianer 2017 knapp 19 Milliarden Euro aus dem Ausland geschickt haben. Viele kommen jedoch verarmt zurück und sind Spott ausgesetzt. Es heißt dann: Sie haben es nicht geschafft.

In einer Seitenstra­ße im Zentrum von Benin-Stadt sitzt eine junge Frau vor einer Notunterku­nft für Opfer von Menschenha­ndel. Sie war in Libyen und wurde dort schwanger. „Oyibo, go take me Europe“, sagt sie und grinst. „Weiße, bring mich nach Europa.“Der Wunsch ist ungebroche­n.

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 ??  ?? Der Wunsch, nach Europa zu kommen, ist auch bei vielen Menschen im Süden Nigerias groß. Doch ein Großteil jener, die sich auf den Weg machen, strandet in Libyen.
Der Wunsch, nach Europa zu kommen, ist auch bei vielen Menschen im Süden Nigerias groß. Doch ein Großteil jener, die sich auf den Weg machen, strandet in Libyen.

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