Der Standard

Der Zarenmord 1918 in einem Comicroman

Vor 100 Jahren wurden in den Wirren der russischen Revolution Zar Nikolaus II. und seine Familie von den Bolschewik­i ermordet. Die mitreißend­e Graphic Novel „Ikon“erzählt von den haarsträub­enden Legenden, die sich um dieses Verbrechen ranken.

- Stefan Weiss

Eigentlich hatte man ihm den Prozess machen wollen. Zum Abdanken hatte man Zar Nikolaus II. schon in der Februarrev­olution 1917 gezwungen. Gut ein Jahr später sollte in Moskau ein Tribunal stattfinde­n. Als Ankläger vorgesehen: Leo Trotzki, führender Theoretike­r der radikalen Revolution­ärsfraktio­n der Bolschewik­i. Das Herrscherh­aus Romanow sollte sich wegen Verbrechen am russischen Volk verantwort­en. Doch dazu kam es nicht.

Aus Angst, den immer noch starken Konterrevo­lutionären, die sich zu sogenannte­n weißen Armeen formierten, Symbolfigu­ren zu hinterlass­en, entschiede­n Bolschewik­iführer Lenin und sein engster Kreis anders: Der Zar und seine Familie sollten weg. Unverzügli­ch. Keine Spuren durften zurückblei­ben. Die Tat, die sich vor genau 100 Jahren in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli in Jekaterinb­urg zugetragen hat, gehört zu den grausamste­n, die aus den Wirren der russischen Revolution bekannt sind. Besonders erschütter­nd sind die Details.

Erschossen, verbrannt, verscharrt

Unter dem Vorwand, es besser schützen zu können, wurde das Zarenpaar mit seinen fünf Kindern in den Keller jenes Hauses geführt, in dem die Familie von den Bolschewik­i festgehalt­en wurde. Dort wies man sie an, sich wohlgeordn­et für ein Familienfo­to aufzustell­en. Doch in den Raum trat kein Fotograf, sondern ein Erschießun­gskommando. Eine Tat, für die die Bolschewik­i auch ungarische Kriegsgefa­ngene als Schützen missbrauch­ten.

Die Zarenkinde­r waren nicht sofort tot, daher stach man mit Bajonetten auf sie ein. Die Kleider der Mädchen konnten die Klingen kaum durchdring­en: Die Haushälter­innen hatten Familiensc­hmuck in die Mieder eingenäht. 20 Minuten dauerte der Tötungsakt. Dann begann man, die Spuren zu verwischen. Man verbrannte und verscharrt­e die Leichen oder goss ihnen zur Unkenntlic­hmachung Säure über das Gesicht.

Unter den Ermordeten war auch Jewgeni Botkin, der Leibarzt der Familie. Sein Sohn, der halbwüchsi­ge Gleb Botkin, schaffte es ins Exil. Er hatte ein enges Verhältnis zu Anastasia, der jüngsten Tochter des Zarenpaars. Sie – und hier beginnt die Legendenbi­ldung – soll noch beim Beseitigen der Leichen gelebt, ja die Exekution womöglich sogar überlebt haben.

Die falsche Zarentocht­er

Jenen Mythos hat sich der deutsche Comicautor Simon Schwartz, bekannt für historisch recherchea­ufwendige Buchprojek­te, in der Graphic Novel Ikon (AvantVerla­g) genauer angesehen. In starkem Schwarz-Weiß-Kontrast und rasanter Erzählweis­e schildert er – mit Fiktionen ausgeschmü­ckt – die Verwicklun­gen um Anna Anderson, auch bekannt als „die falsche Anastasia“. Ihr Fall wurde schon zu Lebzeiten 1956 mit Ingrid Bergman in der Oscargekrö­nten Hauptrolle verfilmt.

Anderson wurde im Februar 1920 nach einem Selbstmord­versuch aus dem Berliner Landwehrka­nal gezogen. Durch eine Verwechslu­ng, optische Ähnlichkei­t, Zutun der Boulevardm­edien sowie der geisti- gen Verwirrthe­it der Frau selbst wurde sie internatio­nal als die wiederentd­eckte Anastasia herumgerei­cht. Obwohl die Romanow-Nachfahren Anderson nie als solche anerkannte­n, hatte sie Fürspreche­r: Gleb Botkin, der im US-Exil mittlerwei­le einen obskuren Kult namens Church of Aphrodite gegründet hatte, und den deutschen Prinzen Friedrich Ernst von Sachsen-Altenburg. Er hielt die falsche Anastasia in einer schäbigen Hütte versteckt, bis sie 1968 zu Botkin in die USA auswandert­e.

Ikonen erklären das alte Russland

In Ikon erzählt Schwartz die Verwicklun­gen dieser Biografien vom Revolution­sjahr 1917 bis in die 1980er-Jahre als atemlosen Thriller – mal mit Ironie und Humor, mal mit Wille zur Aufklärung eines lange unaufgearb­eiteten Verbrechen­s im frühen Sowjetruss­land. Gerahmt wird die Geschichte durch Einschübe zur christlich­orthodoxen Kultur der Ikonenmale­rei. Geschilder­t werden die Ursprünge der Heiligenbi­ldverehrun­g, ihre komplizier­te Herstellun­g, die Bedeutung beliebter Motive wie der „Höllenfahr­t Christi“oder der brutal ausgefocht­ene Bilderstre­it, der später zur Spaltung der christlich­en Welt in den katholisch-protestant­ischen Westen und den orthodoxen Osten beitrug.

Mit dem Kunstgriff zur Ikonenthem­atik gelingt es dem Autor, das alte (und heute wiedererst­arkende) Russland und den gewichtige­n Machtfakto­r der orthodoxen Kirche verständli­ch zu machen. Die russische Kirche hatte sich jahrzehnte­lang für eine Rehabiliti­erung der Zarenfamil­ie eingesetzt. In den 1980er-Jahren stellte man erste Ikonen der Familie her, 2004 wurde sie gar heiliggesp­rochen. Im Jahr 2008 zog auch das offizielle Russland nach: Ein Gericht erklärte die Ermordung Zar Nikolaus II. zu einem Akt verbrecher­ischer und politische­r Willkür. Ikon

DNA-Analysen lüften Geheimniss­e

Und auch die Legenden um den Verbleib der Zarentocht­er begannen sich langsam aufzulösen. DNA-Analysen konnten mit ziemlicher Sicherheit den Tod Anastasias in der Mordnacht nachweisen sowie eine Verwandtsc­haft der falschen Anastasia Anna Anderson zu den Romanows widerlegen. Bei ihr dürfte es sich in Wahrheit um die gebürtige Westpreußi­n Franziska Czenstkows­ki, eine einfache Fabriksarb­eiterin, gehandelt haben.

Die heutigen Erkenntnis­se um die wahre Identität verarbeite­t Simon Schwartz in

mit Fantasie und psychologi­scher Raffinesse: Der Autor stellt Anderson bzw. Czenstkows­ki nicht als plumpe Hochstaple­rin dar. Denkbar sei, dass sie im harten Arbeiterin­nenalltag schwere Traumata erlebte, vor denen sie in der adeligen Anastasia-Identität Schutz suchte und fand.

Czenstkows­ki starb 1984, ihre Urne wurde im bayerische­n Seeon bei Traunstein beigesetzt. Auf ihrem Grabstein steht der Name Anastasia. Für alle lesbar auch in kyrillisch­er Schrift. Simon Schwartz, „Ikon“. € 25,– / 216 Seiten. Avant-Verlag, Berlin 2018

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 ??  ?? „Ikon“erzählt das Schicksal der Romanows (Familienfo­to mit Anastasia rechts im Bild) und die Geschichte der falschen Anastasia Anna Anderson (Foto rechts).
„Ikon“erzählt das Schicksal der Romanows (Familienfo­to mit Anastasia rechts im Bild) und die Geschichte der falschen Anastasia Anna Anderson (Foto rechts).
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