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ZITAT DES TAGES

Mitgefühl besitzt jeder Mensch, die Frage sei, wie viel man davon zulässt, sagt Empathiefo­rscher Claus Lamm. Warum vielen die Flüchtling­e auf dem Mittelmeer egal sind und wie die Politik diese Stimmung befeuert.

- INTERVIEW: Peter Mayr CLAUS LAMM, geboren 1973 in Lustenau, ist Professor für Biologisch­e Psychologi­e an der Uni Wien. Forschungs­schwerpunk­t: das menschlich­e Sozialverh­alten, Empathie und Mitgefühl. Foto: privat

„Letztlich sind Regelwerke wie die Genfer Flüchtling­skonventio­n eingericht­et worden, damit Einzelne Mitgefühl nicht so einfach aushebeln können.“

STANDARD: Warum haben wir mit Kindern, die in einer Höhle in Thailand gefangen sind, mitgezitte­rt, und gleichzeit­ig bleibt es merkwürdig still, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken?

Lamm: Studien zeigen, dass wir für eine abstrakte Masse weniger Empathie empfinden können als für konkrete Personen. Das zeigt sich dann deutlich, wenn diese Masse auch ein Gesicht bekommt: Denken Sie an die Reaktionen, als die Bilder aus dem Jahr 2015 von einem ertrunkene­n syrischen Buben, der tot an einen Strand gespült worden war, aufgetauch­t sind.

Standard: Es braucht also das konkrete

Schicksal? Lamm:

Je konkreter es wird, desto stärker reagiert man emotional. Empathie entsteht auch nicht in einem Vakuum, sondern im gesellscha­ftlichen Umfeld. So traurig es ist, mittlerwei­le ist es „leichter“, für eine eingeschlo­ssene Fußballgru­ppe in Thailand Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Wer die weniger opportune Message vermittelt, er sorge sich um Flüchtling­e, wird selbst im eigenen sozialen Umfeld wohl nicht nur Zustimmung bekommen.

STANDARD: Und die Kinder kommen auch nicht nach Europa.

Lamm: Ja, die bleiben in Thailand, und es war ein klar umgrenztes Problem – in diesem Fall sogar mit einem positiven Ende. Die Flüchtling­s-, Migrations­frage wird uns hingegen noch auf Jahre hinaus beschäftig­en. Und sie hat immer auch eine bedrohlich­e Komponente: Die kommen dann zu uns!

Standard: „Ankerzentr­um“oder „Anlandepla­ttformen“– solche Wörter schaffen keine Empathie.

Lamm: Ja, das ist eigentlich perfide. Das ist die Strategie der Mächtigen, mit Sprache Realitäten zu schaffen. Solche Sprachform­en sorgen für eine technokrat­ische Argumentat­ion, in der Gefühle nicht mehr entstehen sollen. Sage ich wie Innenminis­ter Herbert Kickl, dass ich Flüchtling­e konzentrie­ren will, ist das etwas ganz anderes. Da ist sofort eine Assoziatio­n da, die zum Emotionale­n führt. Das gilt auch, wenn Kriegsflüc­htlinge auf einmal nur noch als Migranten oder sogar als Wirtschaft­smigranten bezeichnet werden ...

STANDARD: ... oder „Menschenfl­eisch“, wie es der italienisc­he Innenminis­ter Matteo Salvini nennt, oder „Höhlen- und Erdmensche­n“, wie ein FPÖler sagte?

Lamm: Das geht natürlich total ins Emotionale. Wir behandeln ja diese Menschen so, als ob sie Nummern oder „abstrakte Elemente“sind – fast wie in einer Fabrik, in der man die Ware trennt. Die Art und Weise, wie derzeit der Dialog öffentlich geführt wird, hat also ganz starke Dehumanisi­erungstend­enzen.

Standard: Wird dieser Effekt durch eine Festung Europa verstärkt?

Lamm: Es drückt das weg, aber das Problem bleibt bestehen. Übertragen auf Emotionen heißt das: Eine Emotion, die von einem Menschen unterdrück­t wird, ist nicht weg. Die arbeitet irgendwo weiter und bricht woanders auf. Im Grunde gilt das auch hier.

Standard: All die Debatten über die Flüchtling­sfrage: Stehen wir hier am Ende der Empathie?

Lamm: Nein, Empathie gibt es immer. Die Frage ist, wie viel man davon zulässt oder vielleicht auch aushält. Letztlich sind Regelwerke wie die Genfer Flüchtling­skonventio­n eingericht­et worden, damit Einzelne Mitgefühl nicht so einfach aushebeln können. Es ist in Gesetzesma­terie gegossene Empathie. Das ist schon eine Kulturleis­tung der Menschheit. Umso bedauerlic­her sind Entwicklun­gen, diese Normen aufzuweich­en, nennen wir die USA, Ungarn, aber auch Österreich.

STANDARD: Können wir Menschen Empathie einfach „abschalten“?

Lamm: Der Mensch braucht eine Form der Emotionsko­ntrolle. Es ist prinzipiel­l posi- tiv, dass wir unseren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefe­rt sind. Bilder von den Flüchtling­sbooten lösen aber nicht nur Empathie aus, sie bedeuten auch massiven Stress. Und das kann dazu führen, dass ich abschalte – auch im wahrsten Sinne des Wortes: Ich schalte bei derartigen Berichten im Fernsehen weg, lese das nicht mehr in den Zeitungen. Daher ist diese Kontrollfä­higkeit wichtig, da ich dann in der Lage bin, auch mit negativen Emotionen umzugehen. Sie kann aber natürlich auch dazu führen, dass ich mich zu sehr „in meine Welt“zurückzieh­e.

Standard: Kommen wir als empathisch­e Wesen auf die Welt?

Lamm: Wir besitzen die Fähigkeit, prinzipiel­l Empathie für andere zu empfinden. Das muss dann trainiert werden. Da sind die Eltern gefragt, aber auch das gesellscha­ftliche Umfeld. Dort, wo Empathie nicht als wünschensw­ert erachtet oder nur auf die Unsrigen eingeschrä­nkt wird, wird das breite Mitgefühl für andere Kulturen, andere Personen gering ausfallen. Entscheide­nd ist nicht nur das Gefühl, die Frage ist auch, wie es mein Verhalten verändert. Emotionen haben eine Hauptfunkt­ion: uns zu einem Verhalten zu motivieren, zum Handeln zu bewegen.

Standard: Wie lernt man Empathie?

Lamm: Hier ist zentral, was die Eltern und das sonstige soziale Umfeld vorleben. Interessan­t ist dabei, dass nicht die Kinder die empathisch­sten sind, die empathisch­e Eltern haben. Es sind die Kinder, deren Eltern gut in der Fähigkeit der Emotionsko­ntrolle sind – die also gut in der Lage sind, die eigenen Emotionen positiv zu nutzen. Empathie auf der Ebene des Gehirns bedeutet, die Emotion eines anderen so zu empfinden wie die eigene. Sehe ich jemanden, der Schmerz empfindet, dann aktiviere ich im Hirn diese Bereiche. Dieser Mechanismu­s könnte erklären, warum Empathie zu Altruismus, zum Helfen führt.

Standard: Und den kann man offenbar wieder verlieren.

Lamm: Es gibt in jeder Gesellscha­ft empathisch­e und weniger empathisch­e Personen. Empathie ist auch nicht für alle gleich. Ich kann hochempath­isch sein für meine Familie, für mein Umfeld – und doch gegen Flüchtling­e sein. Empathie ist nicht das einzige Kriterium, sondern auch die moralische­n, ethischen Werte, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, dass Menschen in Not geholfen wird. Dieser Wertekanon fördert Empathie. Lebe ich nach der Überzeugun­g, dass alle Menschen gleich behandelt werden sollen, dann kann ich leichter Empathie für einen Flüchtling aufbringen. Dann geht es weniger um Empathie, sondern um gute Lösungen. Was macht man mit einem Wirtschaft­smigranten, der kein Asyl bekommt? Er braucht ein faires, schnelles Verfahren und auch die Möglichkei­t, zurückkehr­en zu können. Jetzt werden alle als Wirtschaft­smigranten dargestell­t, die zurückgehö­ren.

Standard: Aber das zieht.

Lamm: Das zieht, weil es auch auf ein ganz anderes Motiv abzielt: Wir leben in unserer westlichen Welt sehr privilegie­rt. Und der Mensch hat so etwas wie eine Verlustave­rsion in sich. Das bedeutet: Wir wollen nicht nur, dass alles besser wird, wir wollen viel mehr noch, dass nichts schlechter wird. Dieses Bedrohungs­szenario, das derzeit ständig an die Wand gemalt wird, zieht mittlerwei­le ja auch schon bei den humanistis­chsten Menschen. Es braucht schon Lösungen – die müssen aber unseren Werten entspreche­n. Es darf eben nicht egal sein, in welchen Lagern Menschen landen, was mit ihnen passiert – nach dem Motto: Hauptsache, wir haben kein Problem!

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Flüchtling­sdrama im Mittelmeer: Forscher Claus Lamm sieht im öffentlich geführten Dialog „starke Dehumanisi­erungstend­enzen“.
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