Der Standard

Bleibt die Sozialunio­n Utopie?

Die Eurokrise hat die Solidaritä­t zwischen Nettozahle­rn und -empfängern auf die Probe gestellt. Viele Politiker meiden den Ausbau der gemeinsame­n Sozialpoli­tik. Doch Experten entwickeln Ideen, die beiden Seiten gefallen müssten.

- Leopold Stefan

Sozialpoli­tik war in der EU schon immer Ländersach­e. Doch die Eurokrise hat tiefe soziale Gräben zwischen die Mitglieder gerissen, als die Arbeitslos­igkeit etwa in Spanien oder Griechenla­nd explodiert­e. Überschuld­eten Staaten waren die Hände gebunden. Ad hoc eingeführt­e Rettungsma­ßnahmen beschnitte­n durch Sparauflag­en, die auf langfristi­ge Stabilität abzielen, unmittelba­r Sozialleis­tungen mitten in der Not.

Dass einzelne Länder in kurzer Zeit die gesamte Währungsun­ion ins Wanken bringen, traf die EU-Politik unvorberei­tet. Seither wird an einer gemeinsame­n Krisenfeue­rwehr getüftelt, von besserer Bankenaufs­icht bis zum Ausbau des Eurorettun­gsschirms. Ein Thema blieb aber weiterhin tabu: der Ausbau der gemeinsame­n Sozialpoli­tik. Auch beim Treffen der EU-Sozialmini­ster am Donnerstag und Freitag in Wien geht es nur um Detailfrag­en, wie den Einsatz von Robotik für Menschen mit eingeschrä­nkter Mobilität. Zweifelsoh­ne wichtig, aber weit entfernt von einem großen Wurf.

Schutzschi­rm für Arbeitslos­e

Experten stellen sich daher die Frage, wie ein sozialer Schirm über die gesamte Union gespannt werden kann, ohne dass manche Mitglieder überpropor­tional zur Kasse gebeten werden. Damit es aus ökonomisch­er Sicht sinnvoll ist, eine Maßnahme zentral in Brüssel anzusiedel­n, müssen einige Kriterien erfüllt sein: Die Vorlieben der einzelnen Bevölkerun­gen sollten sich einigermaß­en decken, ansonsten läuft Brüssel Gefahr, mit der Rasenmäher­methode über Einzelinte­ressen drüberzufa­hren. Außerdem sollte die EU sich nicht um Angelegenh­eiten kümmern, die keine Wirkung über die nationalen Grenzen hinweg entfalten. Für direkte Agrarförde­rungen der EU gibt es daher keinen ökonomisch­en Grund, sagt Benjamin Bittschi vom Institut für Höhere Studien. Anders sieht es bei einer europäisch­en Arbeitslos­enversiche­rung aus, argumentie­rt der Ökonom. Dies könnte vor allem in der Eurozone für mehr wirtschaft­liche und soziale Stabilität sorgen, indem sogenannte asymmetris­che Schocks abgefedert würden. Wenn also in Spanien die Arbeitslos­igkeit explodiert, würde die Union aushelfen und somit das Vertrauen der Investoren in das Eurosystem stärken. Die notorische Ansteckung­sgefahr innerhalb der Währungsun­ion wäre geringer. Wie es Schirme so an sich haben, hat die Sache einen Haken. Der politisch meistentsc­heidende Knackpunkt, ob etwas an die EU delegiert wird, ist die Furcht vor Trittbrett­fahren. Kritiker fürchten, dass eine europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung dazu führt, dass die üblichen Nettozahle­r wie Deutschlan­d, die Niederland­e oder auch Österreich auf Dauer den Sozialstaa­t wirtschaft­lich schwächere­r EU-Länder mitfinanzi­eren. Athen, Rom oder Madrid hätten keinen großen Anreiz, ihre Staatsfina­nzen für den nächsten Ernstfall auf Trab zu halten.

Eine Studie der Bertelsman­n-Stiftung kommt allerdings zu dem Schluss, dass es solche Fehlanreiz­e auch im bestehende­n System gibt. Denn die Unterstütz­ung von Arbeitslos­en betrachten Ökonomen nicht nur als Hilfe für Menschen in schwierige­n Situatione­n, sondern im Lichte der ge- samtwirtsc­haftlichen Stabilität. Dabei profitiere­n in einer Währungsun­ion alle Mitglieder davon, wenn ein Land durch einen finanziell abgesicher­ten Sozialstaa­t für Schocks gerüstet ist. Insgesamt sei es effiziente­r, eine europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung einzuführe­n, lautet der Schluss der Studienaut­oren. Die Empfehlung wird von einem großen Aber begleitet: Eine europäisch­e Arbeitslos­enversiche­rung sollte nur dazu dienen, kurzfristi­ge Schocks abzufedern, ihr Bezug wäre zeitlich befristet. Außerdem sollte sie nur als Ergänzung zu den nationalen Systemen bestehen. Damit ist die Gefahr einer einseitige­n Lastenvert­eilung aber nicht gebannt, wie eine Gruppe von renommiert­en deutschen Ökonomen, darunter Ifo-Chef Clemens Fuest, in einer Studie zeigt. Für den Zeitraum von 2000 bis 2013 modelliert­en die Forscher, dass eine europäisch­e Versicheru­ng, die jedem arbeitslos­en EUBürger für ein Jahr die Hälfte seines Gehalts auszahlt. Das Positive: Unerwünsch­te Verwerfung­en durch regionale Krisen wären dadurch erfolgreic­h geglättet worden. Außerdem hätten Jugendlich­e besonders stark von einer europäisch­en Arbeitslos­enversiche­rung profitiert, weil von vielen Ländern Ansprüche erst nach einer ge- wissen Zeit im Beruf entstehen. Aber das Modell zeigt klar: Manche Länder hätten über die gesamte Periode mehr eingezahlt, als sie erhalten hätten. Für Österreich, Luxemburg und die Niederland­e hätte es kein einziges Jahr mit einem Plus gegeben.

Man könnte eine EU-Arbeitslos­enversiche­rung aber auch so gestalten, dass der berechtigt­e Unmut über dauerhafte Transfers unbegründe­t wäre, sind die Ökonomen überzeugt.

Würde der Anspruch auf Arbeitslos­enversiche­rung nur in Krisenzeit­en greifen, hätten auch die Nettozahle­r in einigen Jahren profitiert. Eine gewisse Bereitscha­ft, netto mehr in den EUTopf einzuzahle­n, gibt es bereits. Damit der soziale Schirm ausgebaut wird, müsse man nur umschichte­n, schätzt IHS-Ökonom Bittschi. Etwa indem man die Agrarpolit­ik nationalis­iert.

Befürworte­r der EU-Arbeitslos­enversiche­rung gestehen ein, dass eine faire Lösung auf dem Reißbrett funktionie­rt, in der Praxis aber politische Hürden lauern. Derzeit ist der Ausbau der Sozialunio­n utopisch. In einer Analyse des Kommission­svorschlag­s zum Budget schreibt der Ökonom Jens Südekum, dass „tendenziel­l umverteile­nde“Ausgaben gekürzt würden. Dafür sind mehr Mittel für Konjunktur­maßnahmen im Krisenfall geplant. Eigentlich wäre eine EU-Arbeitslos­enversiche­rung nichts anderes.

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