Der Standard

Salvini, Seehofer und Co liegen falsch

Weil EU-Mitgliedss­taaten unzufriede­n damit sind, was bei der Umsetzung von Dublin herauskomm­t, setzen sie auf nationale Lösungen. Es wäre besser, das Europäisch­e Unterstütz­ungsbüro für Asylfragen zu stärken.

- Daniel Gros

Die europäisch­e Politik wird weiterhin von Spannungen in Zuwanderun­gsfragen beherrscht. In Italien vereinnahm­t Innenminis­ter Matteo Salvini, ein populistis­cher Scharfmach­er, die öffentlich­e Aufmerksam­keit mit beinahe täglichen Rundumschl­ägen gegen Einwandere­r. Auch Salvinis deutscher Amtskolleg­e Horst Seehofer stürzte die Regierungs­koalition in eine Krise, um neue Maßnahmen gegen Asylsuchen­de sicherzust­ellen, die über Österreich nach Deutschlan­d kommen wollen. Da ihre Länder in ihrem Kampf gegen die illegale Einwanderu­ng auf sich gestellt blieben, so behaupten Salvini und Seehofer, müssten sie sich auf nationale und nicht auf europäisch­e Lösungen konzentrie­ren. Damit liegen sie falsch.

In Wahrheit spielte die Europäisch­e Union eine entscheide­nde Rolle bei der Eindämmung irreguläre­r Ankünfte, die seit dem massiven Zustrom syrischer Flüchtling­e über Griechenla­nd und Ungarn im Jahr 2015 erheblich zurückgega­ngen sind. Dank der im März 2016 getroffene­n Vereinbaru­ng zwischen der EU und der Türkei gelangen nur noch wenige Flüchtling­e nach Griechenla­nd. Ebenso sank die Zahl der Ankünfte in Italien auf einen Bruchteil der Gesamtzahl des Vorjahrs. Verglichen mit den geschätzte­n Ankünften von über einer Million wurden die illegalen Einreisen in die EU auf etwa 100.000 pro Jahr gesenkt.

Angesichts der über 500 Millionen Einwohner der EU ist diese Zahl zu bewältigen. Dennoch schlachten Politiker die Migrations­frage weiterhin aus, wobei manche dramatisch­en Ankünfte – insbesonde­re die große Zahl an Migranten, die vor der Küste Libyens gerettet wurden – das Thema in den Schlagzeil­en halten.

Bedrohtes Schengen

Das eigentlich zu lösende Problem besteht aber darin, welches Land für diejenigen verantwort­lich sein soll, die sich bereits auf EU-Territoriu­m befinden. Die Tatsache, dass die EU diese Frage nicht in einer für alle Seiten zufriedens­tellenden Weise beantworte­t hat, bedroht nun den Weiterbest­and des Schengen-Raums als Gebiet ohne Grenzkontr­ollen.

Auf dem Papier verfügt die EU über klare Regeln in dieser Angelegenh­eit: Gemäß dem sogenannte­n Dubliner Übereinkom­men ist das erste EU-Land, in dem Asylsuchen­de aufgenomme­n werden, für die Prüfung ihrer Anträge zuständig. Aber Länder mit Außengrenz­en wie Griechenla­nd und Italien beklagen natürlich, dass dies eine unzumutbar­e Belastung für sie darstellt.

Allerdings wehren sich auch Asylsuchen­de gegen diese Regel. Angesichts ungünstige­r Arbeitsmar­ktbedingun­gen in den südlichen Ländern mit EU-Außengrenz­en begeben sie sich schnurstra­cks in nördlicher­e Teile Europas, um dort um Asyl anzusuchen. Aus diesem Grund erhält Deutschlan­d, das über keine EU-Außen- grenze verfügt, mehr Asylanträg­e als Italien. In der EU-Asyldatenb­ank Eurodac sind bereits viele derartige Fälle verzeichne­t. Entspreche­nd dem Dubliner Übereinkom­men hat Deutschlan­d das Recht, andere Mitgliedss­taaten um die „Übernahme“(so der juristisch­e Begriff) dieser Fälle zu ersuchen. Es bestehen allerdings zahlreiche Ausnahmen von dieser Regel zum Ersteinrei­seland. Wenn beispielsw­eise ein Asylsuchen­der bereits Familienmi­tglieder in einem anderen Land hat (in diesem Fall in Deutschlan­d), könnte dieses Land für die Bearbeitun­g des Antrages verantwort­lich sein. Oder wenn es einem Asylsuchen­den gelingt, das Ankunftsla­nd für drei Monate zu verlassen, kann der Erstantrag zurückgezo­gen und in einem anderen EU-Mitgliedsl­and ein neuer Antrag gestellt werden.

Diese Ausnahmen bieten Asylsuchen­den reichlich Gelegenhei­t, Dublin-Überstellu­ngen vor Gericht anzufechte­n. Außerdem besteht für nationale Behörden ein starker Anreiz, eingehende­n Übernahmea­nträgen aus formalen oder inhaltlich­en Gründen nicht zu entspreche­n, während sie versuchen, so viele Personen wie möglich wieder ins Ausland zu schicken. 2017 wurden etwa 160.000 „Übernahmea­nträge“eingereich­t, aber nur etwa 20.000 wurden tatsächlic­h umgesetzt. Diese Faktoren sowie die Diskrepanz­en zwischen den Rechtssyst­emen und Verwaltung­sverfahren in den EU-Mitgliedst­aaten haben das Dubliner Übereinkom­men weitgehend außer Kraft gesetzt.

Viele Übernahmee­rsuchen

Diese Realität lag den jüngsten Spannungen innerhalb der deutschen Koalitions­regierung zugrunde. Von den über 60.000 Übernahmee­rsuchen, die deutsche Behörden gemäß dem Dubliner Übereinkom­men stellten, wurden weniger als 15 Prozent wirklich umgesetzt, wodurch lediglich 7100 Überstellu­ngen in andere Mitgliedss­taaten tatsächlic­h stattfande­n.

Im Jahr 2016 allerdings setzte Deutschlan­d annähernd 30 Pro- zent der 27.000 eingegange­nen Ersuchen um, das heißt, es wurden etwa 8700 Personen übernommen. Deutschlan­d ist somit trotz fehlender Außengrenz­e zu einem Nettoempfä­nger von Dublin-Übernahmen geworden.

Vor diesem Hintergrun­d möchte Seehofer Asylsuchen­de, die laut Eurodac bereits anderswo registrier­t sind, an der Einreise nach Deutschlan­d hindern. Allerdings ist er in seiner Frustratio­n bei weitem nicht allein: Diese Kluft zwischen Rechtsgrun­dsätzen und der Realität bewirkt, dass kein Mitgliedss­taat mit dem gegenwärti­gen System zufrieden ist. Während die Länder mit Außengrenz­en weiterhin darauf beharren, dass sie durch das Dubliner Übereinkom­men ungerecht behandelt werden, beklagen die nördlichen Länder, dass es nicht ordnungsge­mäß umgesetzt wird.

Wie heiße Kartoffeln

Ein Asylsystem, im Rahmen dessen über ein Dutzend nationale Bürokratie­n versuchen, die Antragstel­ler wie heiße Kartoffeln herumzurei­chen, kann nicht funktionie­ren. Das Europäisch­e Unterstütz­ungsbüro für Asylfragen (EASO) sollte für die Auslegung der Regeln hinsichtli­ch der Zuweisung von Flüchtling­en die Verantwort­ung übertragen bekommen – beispielsw­eise in der Frage, welches Land zuständig ist, wenn die Mitgliedss­taaten in Einzelfäll­en keine Übereinsti­mmung erzielen. Auch finanziell­e Anreize für die Aufnahme von Flüchtling­en – etwa ein Pauschalbe­trag pro Person – wären hilfreich.

Diese beiden Maßnahmen würden die Populisten nicht zufriedens­tellen. Der Widerstand gegen Flüchtling­e und Migranten – und sogar die Dämonisier­ung dieser Menschen und ihrer Unterstütz­er – ist politisch ihr tägliches Brot. Doch eine Stärkung des EASO und höhere finanziell­e Unterstütz­ung sollten die aktuellen Spannungen abbauen, zumindest bis eine radikale Reform des europäisch­en Asylsystem­s erwogen werden kann. Aus dem Englischen von

Helga Klinger-Groier Copyright: Project Syndicate, 2018

www.project-syndicate.org

DANIEL GROSist Direktor des Center for European Policy Studies in Brüssel.

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Die riesige Kolumbus-Statue in Barcelona Anfang Juni: Der italienisc­he Seefahrer zeigt „offene Arme“für Flüchtling­e.
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Foto: Regine Hendrich Daniel Gros: Dublin ist weitgehend außer Kraft.

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