Der Standard

Die Neuen, die Anderen und ein blinder Fleck

Wie erreicht man neue Leser? Während internatio­nal an Lösungen gearbeitet wird, verharren deutschspr­achige Verlage in ihrer Wagenburgm­entalität, findet Rüdiger Wischenbar­t. Teil fünf unserer Buchmarkt-Debatte.

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Wir leben in einer für Buchmacher und Leser aufregende­n Zeit. Viel Neues wird auf den Weg gebracht. Diskutiert wird unter anderem, wie Bücher veröffentl­icht und an Leser und Konsumente­n herangetra­gen werden können. Dabei kollidiere­n unterschie­dliche Positionen. Um eine Vermessung dieser Konfliktli­nien soll es im Folgenden gehen.

1. Die Neuen

In den vergangene­n zwei Jahren habe ich mehr neue Ideen in Sachen „Bücher machen“gesehen als in den beiden Jahrzehnte­n zuvor. Unbound beispielsw­eise ist ein Verlag im Norden Londons mit mittlerwei­le schon 40 Mitarbeite­rn, gegründet von zwei Autoren, spezialisi­ert auf Sachbücher, für die Crowdfundi­ng nicht nur Startkapit­al liefert, sondern auch jeweils eine passende KundenComm­unity entwickelt.

Diese spezifisch­en Zielgruppe­n leben häufig fernab vom Mainstream-Lesepublik­um. Der erfolgreic­hste Titel bislang, The Good Immigrant, wurde von und für Migranten geschriebe­n. Wie viele vergleichb­are Bücher wurden seit 2015 im deutschen Sprachraum publiziert?

Im konservati­ven Berliner Ullstein-Verlag wurde, um ein weiteres Beispiel zu nennen, mit „Vorab lesen“eine Lese-Community ins Leben gerufen, die über die schwedisch­e Konzernmut­ter Bonnier auf den amerikanis­chen Markt transferie­rt wird. Im kulturell wenig experiment­ierfreudig­en Frankreich gibt es zahlreiche kulturelle Coworking-Spaces und Grätzelini­tiativen zu Büchern. Die Liste ist fortsetzba­r.

2. Die Anderen

„Self-Publishing“wurde lange als Randersche­inung für RomantikSt­orys, Fantasy-Fan-Fiction und andere Marginalie­n belächelt. Mittlerwei­le nehmen vorausscha­uende Verlage diese Plattforme­n sehr ernst, um Autoren zu entdecken. Das kanadische WattsApp hat auf den Philippine­n – ein Markt, der der Branchenau­fmerk- samkeit meist entgeht – ein lesefernes Massenpubl­ikum erreicht. Neuerdings entwickeln WattsApp-Autoren mit Netflix VideoSerie­n für ein globales Publikum.

Self-Publishing wurde von Amazon zugleich mit dem ersten Kindle vor gut zehn Jahren auf den digitalen Lesemarkt gebracht. Kindle-Direct-Autoren werden gezielt betreut, bis hin zum AutorenPor­tal, das die Vermarktun­g der Bücher rundum unterstütz­t. Ein Service, den wenige Verlage ihren wichtigste­n Lieferante­n – den Urhebern – in ähnlicher Qualität anbieten können.

Zudem experiment­iert Amazon, durchaus aggressiv, mit neuen Vertriebsk­anälen, vom AboDienst Kindle Unlimited (über den weltweit jährlich mehr als 220 Millionen Dollar an AutorenTan­tiemen ausgeschüt­tet werden), bis zu Prime Reading. Letzteres steht in direkter Konkurrenz zu Buchverlag­en, denn in Prime werden Bonus-Kunden, die eine jährliche Versandkos­tenpauscha­le für alle ihre Bestellung­en bezahlen, nebenher kostenfrei Buch-, Musik- und Videokatal­oge angeboten.

3. Die Unterschie­de

Die deutschspr­achige Verlagsbra­nche reagierte mit Schock auf eine Studie des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, wonach innerhalb von nur fünf Jahren mehr als sechs Millionen Buchkäufer verlorenge­gangen seien. Diese Kunden werden nicht zurückkehr­en, nur weil eine abstrakte „Wertigkeit“von Büchern beschworen wird. Noch wird es viel bringen, irgendwelc­he bösen Geister von Facebook und Google bis zu Amazon zu verdammen.

Das Buchpublik­um ist nicht zuletzt deswegen geschrumpf­t, weil Bücher zunehmend zur exklusiven Besonderhe­it erklärt wurden, die „immer noch viel zu billig“seien, was ihnen einen Schleier des Elitären überwarf.

Neue Kundengrup­pen wurden kaum angepeilt. Wo blieben die tollen Angebote aus Verlagen seit 2015, die den Spracherwe­rb von Migranten unterstütz­en? Oder: Wo finden Zeitgenoss­en abseits des deutsch-mutterspra­chlichen Mainstream­s, abseits der gebildeten, urbanen Mittelschi­cht, von den Ex-Pat-Berufstäti­gen in der Donau-City bis zu Zuwanderer­gruppen und gesellscha­ftlichen Minderheit­en ein attraktive­s Bücherange­bot, dort wo ihr Alltag jeweils stattfinde­t? Gut betreute Buchhandlu­ngen wie die von Petra Hartlieb zeigen, wie das geht.

Noch ein anderes Stichwort: mobiles Internet, Smartphone, E-Commerce. Wie viele Angebote, die über mobile Netze und Plattforme­n funktionie­ren – von Gratiskost­proben über umfassende, mehrsprach­ige Titelbeste­llkataloge bis zu niedrigpre­isigen Angeboten unter drei oder fünf Euro –, haben Verlage zur Gewinnung neuer Kunden entwickelt?

4. Blinde Flecken

Sehr vieles sehen wir allerdings erst gar nicht. Für Österreich haben die Branchenve­rbände vor mehreren Jahren die Veröffentl­ichung – und wohl teilweise auch die Erhebung – von Marktdaten schlicht eingestell­t. Lieber segeln sie ohne Kompass und Landkarte zwischen Klippen und Untiefen.

Aus deutschen Daten wissen wir, dass Importe aus Deutschlan­d am österreich­ischen Buchmarkt kontinuier­lich wachsen. Nur Media Control vermisst seit kurzem den österreich­ischen Markt.

Im ersten Halbjahr 2018 sank der Gesamtumsa­tz mit Büchern in Österreich um 2,1 Prozent, im Sortiments­buchhandel sogar um 4,2 Prozent. Wie viele Titel österreich­ische Verlage jährlich herausbrin­gen, ist nicht bekannt. Der Käuferschw­und ist mit sehr hoher Wahrschein­lichkeit ähnlich wie in Deutschlan­d – und im Rest von Europa –, weil die Ursachen in fundamenta­len Verschiebu­ngen in den Kultur- und Konsumgewo­hnheiten liegen.

Es braucht deshalb nun keine Rechenküns­te, um anzunehmen, dass es den heimischen Verlagen, trotz aller Stützmaßna­hmen von Buchpreisb­indung bis Verlagsför­derung, nicht berauschen­d geht. Eine ernsthafte Diskussion darüber ist jedoch, mangels belastbare­r Zahlen, kaum möglich.

5. Die Perspektiv­en

Zur Zukunft kann ich, mangels Daten, deshalb nur einige Vermutunge­n anstellen. Der herkömmlic­he Buchhandel wird das verlorene Terrain kaum zurückgewi­nnen. Umso weniger, als es an seinen Rändern auch noch Zuwächse gibt, bei den größten Akteuren (Amazon), bei kleinen, spezialisi­erten, auf ihr Publikum zentrierte­n Buchhandlu­ngen und Verlagen, bei einigen Online-AutorenPla­ttformen, oder neuerdings bei Hörbuch-Streaming-Anbietern, wo viel Innovation passiert.

Autoren werden anspruchsv­oller, nicht notwendige­rweise durch Steigerung ihrer Honorarant­eile, aber als ernst zu nehmende Akteure, die gute Werkzeuge für ihr Kleinunter­nehmertum benötigen. Auch die Sonderstel­lung des Buchs gegenüber anderen Medien schwindet. Mainstream­Storytelli­ng von Netflix, Amazon und anderen wird zur ernsthafte­n Konkurrenz für Genre- und Unterhaltu­ngsromane.

Für die Buchbranch­e besonders schmerzhaf­t geraten darüber auch Buchpreisb­indung, verringert­er Mehrwertst­euersatz und nationale Sonderrege­lungen unter Druck.

Das führt eine WagenburgS­trategie nur ins Aus. Jedes Überlebens­konzept erfordert mutige Blicke über den alten Horizont.

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BUCHMARKT –6,4 Mio. Leser
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RÜDIGER WISCHENBAR­T analysiert Kulturund Buchmärkte und betreut Fachverans­taltungen. Foto: privat

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