Der Standard

London plant den Chaos-Brexit

Außenminis­ter Jeremy Hunt fordert die EU auf, das Horrorszen­ario eines ungeregelt­en Austritts zu verhindern. Die Industrie warnt vor Unruhen.

- Sebastian Borger aus London

Ungeachtet energische­r Warnungen aus der Industrie will die britische Regierung unter Premiermin­isterin Theresa May offenbar ihre Bevölkerun­g an die Möglichkei­t eines chaotische­n Brexits gewöhnen. Der EU-Austritt ohne jede Vereinbaru­ng werde „zu einer sehr ernsten Gefahr“, sagte Außenminis­ter Jeremy Hunt am Montag in Berlin und machte dafür die Haltung Brüssels verantwort­lich. Die EU sei anscheinen­d der Ansicht, man müsse nur lange genug warten, und dann werde Großbritan­nien schon nachgeben. Doch das werde nicht passieren, so Hunt. Brexit-Minister Dominic Raab teilte in Medieninte­rviews mit, sein Ressort werde die Vorbereitu­ngen für den sogenannte­n „No deal“-Brexit verstärken. Dieser werde im kommenden April zu Versorgung­sschwierig­keiten und „Unruhen“führen, prophezeit ein führender Manager.

Der britische Amazon-Chef Douglas Gurr gehörte vergangene­n Freitag zu einer Gruppe hochkaräti­ger Manager bei einer Zusammenku­nft mit Raab in Chevening, einem Landhaus der Regierung. Londoner Medienberi­chten zufolge machte der erst seit zwei Wochen amtierende Minister bei den Managern zwar Eindruck mit seiner Detailkenn­tnis der Brexit-Verhandlun­gen. Der Austrittsb­efürworter habe aber nach Meinung von Teilnehmer­n den Ernst der Lage nicht erkannt.

Verstopfte Häfen

Dazu gehören nach der Vorhersage von Experten verstopfte Häfen an den Kanalküste­n, Unklarheit über Flugrechte im europäisch­en Luftraum sowie Probleme mit der Lebensmitt­el- und Medikament­enversorgu­ng. Eine entspreche­nde BBC-Frage tat Raab als „unwichtige­s Detail“ab. Amazon-Manager Gurr zufolge, dessen Unternehme­n auf der Insel 25.000 Menschen beschäftig­t, könnten die Versorgung­sprobleme jedoch unter Umständen auch Krawalle zur Folge haben, wie sie im Sommer 2011 mehrere englische Städte, darunter auch London, tagelang an den Rand der Anarchie gebracht hatten.

Auf der Luftfahrts­chau in Farnboroug­h hatten vergangene Woche führende Unternehme­n der Branche ihrem Ärger über die Regierung Luft gemacht. Der Vorstandsc­hef des weltweit tätigen Turbinenba­uers RollsRoyce, Warren East, prognostiz­ierte „lästige und teure Vorratshal­tung“, falls nicht bald eine Vereinbaru­ng über die zukünftige wirtschaft­liche Zusammenar­beit mit der EU getroffen werde.

Dass die Regierung mit den beiden neuen Ministern Raab und Hunt offenbar ihre Verhandlun­gstaktik ändert, dürfte dem Druck geschuldet sein, den konservati­ve Brexit-Ultras auf die Premiermin­isterin ausüben. Mays kürzlich veröffentl­ichtes Weißbuch sieht nicht nur die bereits vereinbart­e Zahlung von mindestens 40 Milliarden Euro in die EU-Kasse vor sowie eine Übergangsf­rist bis Ende 2020, in der Großbritan­nien praktisch ohne Stimmrecht EUMitglied bleibt. Darüber hinaus soll die Brexit-Insel auch in einem Binnenmark­t für Güter verbleiben, bei Dienstleis­tungen wiederum will sie eigene Handelsweg­e gehen. Dagegen erheben nicht zuletzt kleinere, nordeuropä­ische EU-Mitglieder Einspruch wegen unfairen Wettbewerb­s: Gerade in Hightech-Gütern machen Dienstleis­tungen bis zu 40 Prozent des Verkaufswe­rts aus.

Briten machen sich keine Sorgen

Wie gelassen die Bevölkerun­g die Aussicht auf einen Chaos-Brexit zu nehmen scheint, machte am Wochenende eine Umfrage der Firma Yougov deutlich. Der zufolge wollten im Fall eines zweiten Referendum­s, wie es von EU-freundlich­en Konservati­ven propagiert wird, immerhin 38 Prozent für „no deal“stimmen. Bemerkensw­ert wirkt aber auch die Zahl jener, die mehr als zwei Jahre nach dem Austrittsv­otum an der EU-Mitgliedsc­haft festhalten: Genau 50 Prozent wollten sich dafür entscheide­n, der Rest befürworte­te einen Deal auf der Grundlage des britischen Weißbuchs.

Für dessen Inhalte werben die Premiermin­isterin und wichtige Ressortche­fs ihrer Regierung diese Woche bei den europäisch­en Verbündete­n. Nach Hunts Besuch in Berlin reisen diese Woche Vizepremie­r David Lidington nach Paris und Wirtschaft­sminister Greg Clark nach Rom; May selbst will am Rande der Salzburger Festspiele den derzeitige­n EU-Ratspräsid­enten, Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz sowie den tschechisc­hen Premier Andrej Babiš treffen.

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Foto: AFP / Charles McQuillan Die britische Premiermin­isterin May hat derzeit keine guten Aussichten.

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