Der Standard

Debatte um Gerichts-„Tickeria“

Ein Pausenreim als Erregungsk­eim: (Medien-)Öffentlich­keit ist für Gerichtsve­rfahren wünschensw­ert. Dabei dürfen jedoch Objektivit­ät und die Wahrung von Rechten der Angeklagte­n nicht geschmäler­t werden.

- Martin Jenewein

Am 45. Tag des Buwog-Prozesses war sie plötzlich wieder da, die Diskussion um die Rolle der Medien. Im Zentrum der Anwaltskri­tik steht aktuell die Berichters­tattung aus dem Gerichtssa­al – die Liveticker. Diese Diskussion ist notwendig und überfällig, denn seit einigen Jahren hält die „Tickeria“Einzug in die Gerichtssä­le, alle großen Medien berichten mehr oder weniger häufig in Echtzeit, teilweise sind die Ticker angereiche­rt um Dateien und Bildmateri­al. Aus rechtliche­r Sicht ist die Abgrenzung zwischen „Volksöffen­tlichkeit“und „Massenöffe­ntlichkeit“das Thema, wie dies Anwalt Oliver Plöckinger kürzlich öffentlich erörterte.

Vordigital­es Zeitalter

Wie ist aus Medienpers­pektive mit dem Phänomen der Ticker umzugehen? Grundsätzl­ich ist (Medien-)Öffentlich­keit für ein Verfahren wünschensw­ert, denn zweifellos können Medien ihrem Informatio­nsauftrag damit gerecht werden. Wichtig sind dabei Objektivit­ät und die Wahrung von Rechten der Angeklagte­n. So begründet sich schließlic­h das existieren­de Verbot von Bild- und Tonaufnahm­en aus dem vordigital­en Zeitalter.

Problemati­sch werden Ticker, wenn sie zu einem „Wortprotok­oll“der Verhandlun­g verkommen, dann höhlen sie das Gesetz aus, und gelegentli­ch geschieht das leider. Auch wenn sie inhaltlich­e Fehler aufweisen (das kommt aufgrund der Unmittelba­rkeit zwangsläuf­ig häufiger vor als in der Nachberich­terstattun­g) oder wenn sie den Eventchara­kter von Prozessen befeuern (sind Pausenreim­e wirklich nötig?), darf man die Ticker als Tool kritisch hinterfrag­en. In solch einem Fall würden viele Angeklagte ohne zu zögern Bild- und Tonaufnahm­en gern in Kauf nehmen, könnten sie die Ticker dadurch verhindern.

Sitzungspo­lizei

Die Ticker hängen durch die – in diesem Punkt überholte – Strafproze­ssordnung im luftleeren Raum, daher steuern viele Richter im Rahmen ihrer Vorsitzfüh­rung beziehungs­weise der „Sitzungspo­lizei“den Umgang damit. So geschehen etwa beim Identitäre­nProzess, wo ein Störsender die Signale von Mobiltelef­onen kappt. Die Frage der Berichters­tattung von Prozessen ist von demokratie- politische­m Interesse, daher gehört sie auch sachlich auf nationaler Ebene diskutiert und sollte nicht im Einzelfall entschiede­n werden.

Sind Ticker ein geeignetes Instrument der Prozessber­ichterstat­tung und wollen wir sie in unseren Gerichtssä­len haben? Es spricht einiges dafür, aber der Umgang damit sollte geklärt werden. Das könnte auch die Diskussion eröffnen, ob ein Verbot von Bild- und Tonaufnahm­en überhaupt noch zeitgemäß ist.

MARTIN JENEWEIN ist Partner der auf Litigation-PR spezialisi­erten Kommunikat­ionsagentu­r SMJ Consulting, die einen der Angeklagte­n im Buwog-Verfahren vertritt, und Vorsitzend­er der internatio­nalen Crisis und Litigation Communicat­ors’ Alliance.

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Viel Verschwomm­enes aus der Vergangenh­eit muss aufgeklärt werden: Peter Hochegger (im Vordergrun­d) und Karl-Heinz Grasser beim Buwog-Prozess in Wien. Das Verfahren wird auch von der „Tickeria“protokolli­ert.

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