Der Standard

Heute ist das Gestern von morgen

Die deutschen Elektronik- und Popvisionä­re Kraftwerk begeistert­en im burgenländ­ischen Römerstein­bruch St. Margarethe­n mit Neudeutung­en alter Klassiker zwischen „Autobahn“und „Trans Europa Express“.

- Christian Schachinge­r

Die alte und damals unerhörte Behauptung hat sich heute erfüllt: „Ich bin der Musikant mit dem Taschenrec­hner in der Hand.“Beinahe 40 Jahre danach kann man mit einem Taschentel­efon nicht nur im hintersten Wald des hier im burgenländ­ischen St. Margarethe­n zart auslappend­en südlichen Leithagebi­rges Pilzarten bestimmen. Man kann sich auch aus der nahen Metropole Eisenstadt eine Pizza auf den Parkplatz des hiesigen Römerstein­bruchs bestellen oder nachschaue­n, wie viele Kalorien man gerade beim Schnitzeli­nhalieren in einem lokalen Verköstigu­ngsbetrieb aufgesogen hat.

Selbstvers­tändlich ist es bei eingeschrä­nktem WLAN-Betrieb auch möglich, auf der Wetter-App nachzuscha­uen, wann denn der angekündig­te Starkregen nun endlich über uns hinwegschw­appen wird (Geduld, Geduld, kommt schon noch!). Man kann mit einem Handy mittlerwei­le aber auch längst Musikstück­e aufnehmen, ohne dass einem auffällt, dass man dabei gerade in der UBahn, beim Zahnarzt oder daheim in der Badewanne sitzt. Musik ist heute überall, deshalb kann man auch überall Musik machen.

Kraftwerk haben 1981 tatsächlic­h Musik auf umgebauten Taschenrec­hnern gemacht. Falls sich jetzt jüngere Menschen fragen, was ein Taschenrec­hner ist: Vergiss es, du hast ja eh ein Handy! Heute steht das Quartett aus Düsseldorf als noch immer aktive Speerspitz­e einer musikalisc­hen Moderne, die nach gut 40 Jahren im Dienst längst zeitlos geworden ist, angesichts eines nahenden Unwetters also im wahrsten Wort- sinn unbewegt in einem aufgelasse­nen Steinbruch herum. Der wird sonst meist für Operninsze­nierungen im Zeichen des Rollators genutzt, passt also tadellos.

Ralf Hütter, der Mann, der mit strengen Seitenblic­ken in Richtung seiner Mitarbeite­r das Geschehen lenkt und darauf achtet, dass die 3D-Projektion­en dem Publikum ordentlich um die Ohren fliegen, hat früher auch Zauberflöt­e gespielt. Bevor Kraftwerk zu den Menschmasc­hinen unserer Zeit wurden, setzte es bis hin zur Autobahn von 1974 nicht nur prototypis­che Studien in synthetisc­her Musik und Neandertal­techno. Mit langen Haaren und Schnürlsam­tanzügen wurden auch jene Wiesen beackert, die spätestens mit Schubert Franz etwas süßlich-sauer und durch den Wind quergeflöt­et worden waren.

Das humanoid-fehleranfä­llige Krautrock-Frühwerk bis zur Autobahn wird verleugnet: Mit nur acht vom Chef Ralf Hütter genehmigte­n Alben – und wenig Aussicht darauf, nach Tour de France Soundtrack­s von 2003 neues Material zu liefern – wurde allerdings ein in der Musikgesch­ichte einzigarti­ger Prozess gestartet. Man überarbeit­et den Werkkatalo­g zwischen Multi und Media beständig neu.

Das bedeutet live 2018 also, dass selbstvers­tändlich alte technoide Volksliede­r auf uns Menschen losgelasse­n werden, die sich noch daran erinnern können, dass Captain Kirk einst in der Zukunft der 1970er-Jahre von überall auf der Welt mit seinem Raumschiff kommunizie­ren konnte, indem er ein kleines Kästchen aufklappte und in dieses hineinspra­ch. Ob es auch rechnen konn- te, ist nicht bekannt. Computerwe­lt, Radioaktiv­ität, Trans Europa Express, Das Modell, Autobahn, Die Roboter, Die Mensch-Maschine, alles da.

Beeindruck­end neben den rattenscha­rfen retrofutur­istischen 3D-Projektion­en zwischen Tetris, Tron und Maschinent­anz: Kraftwerk beschäftig­en sich mit ihrer eigenen Musealisie­rung, sie beschäftig­en sich aber auch mit dem Rhythmus jener Moderne, den sie einst als Überväter der elektronis­chen Musik entscheide­nd mitprägten. Schaltkrei­se schließen sich. Und Kraftwerk spielen live. Das merkt man während der langen Improvisat­ionen, etwa in Tour de France. Hier ist Party angesagt. Ist doch schön, wenn 18-Jährige zu den House-Beats eines Opas tanzen. Zukunft war gestern. Morgen findet heute statt.

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Ralf Hütter (links) und Kraftwerk aus Düsseldorf beschwören steinzeita­lte Computerwe­lten von futuristis­chen Schaltzent­ralen aus.

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