Heute ist das Gestern von morgen
Die deutschen Elektronik- und Popvisionäre Kraftwerk begeisterten im burgenländischen Römersteinbruch St. Margarethen mit Neudeutungen alter Klassiker zwischen „Autobahn“und „Trans Europa Express“.
Die alte und damals unerhörte Behauptung hat sich heute erfüllt: „Ich bin der Musikant mit dem Taschenrechner in der Hand.“Beinahe 40 Jahre danach kann man mit einem Taschentelefon nicht nur im hintersten Wald des hier im burgenländischen St. Margarethen zart auslappenden südlichen Leithagebirges Pilzarten bestimmen. Man kann sich auch aus der nahen Metropole Eisenstadt eine Pizza auf den Parkplatz des hiesigen Römersteinbruchs bestellen oder nachschauen, wie viele Kalorien man gerade beim Schnitzelinhalieren in einem lokalen Verköstigungsbetrieb aufgesogen hat.
Selbstverständlich ist es bei eingeschränktem WLAN-Betrieb auch möglich, auf der Wetter-App nachzuschauen, wann denn der angekündigte Starkregen nun endlich über uns hinwegschwappen wird (Geduld, Geduld, kommt schon noch!). Man kann mit einem Handy mittlerweile aber auch längst Musikstücke aufnehmen, ohne dass einem auffällt, dass man dabei gerade in der UBahn, beim Zahnarzt oder daheim in der Badewanne sitzt. Musik ist heute überall, deshalb kann man auch überall Musik machen.
Kraftwerk haben 1981 tatsächlich Musik auf umgebauten Taschenrechnern gemacht. Falls sich jetzt jüngere Menschen fragen, was ein Taschenrechner ist: Vergiss es, du hast ja eh ein Handy! Heute steht das Quartett aus Düsseldorf als noch immer aktive Speerspitze einer musikalischen Moderne, die nach gut 40 Jahren im Dienst längst zeitlos geworden ist, angesichts eines nahenden Unwetters also im wahrsten Wort- sinn unbewegt in einem aufgelassenen Steinbruch herum. Der wird sonst meist für Operninszenierungen im Zeichen des Rollators genutzt, passt also tadellos.
Ralf Hütter, der Mann, der mit strengen Seitenblicken in Richtung seiner Mitarbeiter das Geschehen lenkt und darauf achtet, dass die 3D-Projektionen dem Publikum ordentlich um die Ohren fliegen, hat früher auch Zauberflöte gespielt. Bevor Kraftwerk zu den Menschmaschinen unserer Zeit wurden, setzte es bis hin zur Autobahn von 1974 nicht nur prototypische Studien in synthetischer Musik und Neandertaltechno. Mit langen Haaren und Schnürlsamtanzügen wurden auch jene Wiesen beackert, die spätestens mit Schubert Franz etwas süßlich-sauer und durch den Wind quergeflötet worden waren.
Das humanoid-fehleranfällige Krautrock-Frühwerk bis zur Autobahn wird verleugnet: Mit nur acht vom Chef Ralf Hütter genehmigten Alben – und wenig Aussicht darauf, nach Tour de France Soundtracks von 2003 neues Material zu liefern – wurde allerdings ein in der Musikgeschichte einzigartiger Prozess gestartet. Man überarbeitet den Werkkatalog zwischen Multi und Media beständig neu.
Das bedeutet live 2018 also, dass selbstverständlich alte technoide Volkslieder auf uns Menschen losgelassen werden, die sich noch daran erinnern können, dass Captain Kirk einst in der Zukunft der 1970er-Jahre von überall auf der Welt mit seinem Raumschiff kommunizieren konnte, indem er ein kleines Kästchen aufklappte und in dieses hineinsprach. Ob es auch rechnen konn- te, ist nicht bekannt. Computerwelt, Radioaktivität, Trans Europa Express, Das Modell, Autobahn, Die Roboter, Die Mensch-Maschine, alles da.
Beeindruckend neben den rattenscharfen retrofuturistischen 3D-Projektionen zwischen Tetris, Tron und Maschinentanz: Kraftwerk beschäftigen sich mit ihrer eigenen Musealisierung, sie beschäftigen sich aber auch mit dem Rhythmus jener Moderne, den sie einst als Überväter der elektronischen Musik entscheidend mitprägten. Schaltkreise schließen sich. Und Kraftwerk spielen live. Das merkt man während der langen Improvisationen, etwa in Tour de France. Hier ist Party angesagt. Ist doch schön, wenn 18-Jährige zu den House-Beats eines Opas tanzen. Zukunft war gestern. Morgen findet heute statt.