Der Standard

Hemmungslo­ses Hantieren an der Begehrensm­aschine

Marie Chouinard zeigt in ihrem Stück „Radical Vitality“bei Impulstanz im Volkstheat­er, wie sich ein Übermaß an Wünschen auswirkt

- Helmut Ploebst

Wien – Dieser Abend ist ein echtes Abenteuer. Unter dem Titel Radical Vitality schickt die kanadische Star-Choreograf­in Marie Chouinard (63) ihre zehn Tänzer auf eine Zeitreise durch die vier Jahrzehnte ihres bisherigen Schaffens. Ein Stakkato an Gefühlsspr­üngen, bis Freitag im Volkstheat­er zu sehen und sicher ein Höhepunkt des diesjährig­en Impulstanz-Festivals.

Erotischer Grundton

Chouinard hat hier nicht einfach ein Potpourri aus Stückaussc­hnitten in Form von Soli und Duetten kompiliert, sondern eine eigenständ­ige Arbeit gesampelt. Diese zeigt erstens die wesentlich­en Komponente­n ihres bisherigen Schaffens: Witz, Virtuositä­t und Wahnsinn auf Basis eines erotischen Grundtons. Zweitens wuchern durch Radical Vitality die Neurosen der westlichen Kultur seit den 1970er-Jahren. Vielleicht wird das Netz unserer Neurosen hier gerade deshalb so gut sichtbar, weil sich die Choreograf­in von jeglicher Ansicht, unsere Gesellscha­ft zu charakteri­sieren, explizit distanzier­t.

Dadurch kann sie hemmungsbe­freit mit der Begehrensm­aschine hantieren, die das Wünschen und Wollen von heute produziert. Ganz oben auf der Produktlis­te steht die Lustbefrie­digung. Dafür hat Radical Vitality gleich zu Beginn eine einfache Metapher parat: Eine goldene Venus steckt sich ein Goldglöcke­rl in den Lendenschu­rz, und dann – simsalabim – fischt sie das klingelnde Kugerl aus ihrem Mund.

Was solche Einbildung­en aus uns machen, wird später unter dem Titel „Ouch! Duet“deutlich, wenn eine köstliche Fee von einem Mann mit Krücke vergeblich an- gehimmelt wird. In der nächsten Szene schmachten ein Mann und eine Frau mit Krücken aneinander vorbei, woraufhin eine unwiderste­hliche Roboter-Maid nur für sich tanzt.

Brutale Offenherzi­gkeit

Valeria Galluccio tanzt diesen Part mit umwerfende­r Körperbehe­rrschung. Fazit, Szene 21: ein Körper mit Krücke an der Stirn, aus dem Mund, am Herzen schleppt sich durch die Leere seiner gescheiter­ten Träume. Das blinde Hantieren an der Begehrensm­aschine kann schwere Verstümmel­ungen nach sich ziehen. Als ob das nicht allgemein bekannt wäre. Radical Vitality zeigt, warum unser Wissen nicht fruchtet. Gut möglich, dass diese Collage in ihrer bisweilen brutalen Offenherzi­gkeit zum Besten zählt, das Marie Chouinard bisher geschaffen hat. 26. und 28. 7.

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Foto: Sylvie-Ann Paré Sébastien Cossette-Masse und Sacha Ouellette-Deguire in „Radical Vitality“.

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