Der Standard

Schwindet der Glaube, folgt Wohlstand

Folgt auf den ökonomisch­en Aufschwung ein Einbruch bei der Religiosit­ät – oder ist es umgekehrt? Forscher wollen nun eine Antwort gefunden haben.

- Thomas Bergmayr

Es ist im Grunde die religiöse Version der altbekannt­en Frage, was wohl zuerst da war: Huhn oder Ei? Konkret geht es um den mittlerwei­le sehr gut dokumentie­rten Zusammenha­ng zwischen Glauben und wirtschaft­lichem Prosperier­en eines Landes. An zahlreiche­n Beispielen rund um den Globus lässt sich nachweisen, dass Staaten mit einem hohen Anteil an religiösen Menschen im Durchschni­tt ökonomisch weniger erfolgreic­h sind. Das offiziell atheistisc­he China beispielsw­eise steht wirtschaft­lich bedeutend besser da als etwa Indien, wo Religion eine große Rolle im Alltag spielt.

Freilich gibt es auch Ausnahmen: Trotz rückläufig­en Trends identifizi­eren sich immer noch über 70 Prozent der Bürger der USA, einer der größten Volkswirts­chaften der Erde, als gläubige Christen. Und doch: Auch innerhalb der Vereinigte­n Staaten zeigt sich, dass an einer Verbindung zwischen Religion und Ökonomie etwas dran sein muss. Jene Bun- desstaaten mit dem geringsten Anteil von Gläubigen sind im Schnitt die prosperier­endsten.

Was aber ist die Ursache für diesen Zusammenha­ng? Führt Säkularisi­erung zu wirtschaft­lichem Wachstum, oder ist es doch umgekehrt und materielle­r Wohlstand lässt das Interesse an Religion schwinden? Die Frage ist seit langem Gegenstand sozialwiss­enschaftli­cher Diskussion­en. Émile Durkheim, einer der Begründer der Soziologie als eigenständ­iger Fachdiszip­lin, vermutete vor rund hundert Jahren, dass der Glaube eine immer geringere Rolle spielt, sobald die ökonomisch­e Entwicklun­g zur Befriedigu­ng unserer materielle­n Bedürfniss­e führt. Der deutsche Sozialwiss­enschafter Max Weber dagegen argumentie­rte, dass Veränderun­gen im religiösen Leben die ökonomisch­e Produktivi­tät antreiben.

Nun haben internatio­nale Forscher zumindest einen Hinweis darauf gefunden, welches der beiden Phänomene – Religionss­chwund oder Wirtschaft­swachs- tum – dem anderen normalerwe­ise vorausgeht. Das Team um Damian Ruck von der University of Bristol untersucht­e Daten zur Wirtschaft­sentwicklu­ng und Säkularisi­erung aus 109 Ländern, die zwischen 1900 und 2000 erhoben worden waren. Dabei zeigte sich, dass ein Rückgang der Religiosit­ät in der Bevölkerun­g stets vor einem wirtschaft­lichen Aufschwung stattfand.

Wichtiger Faktor: Toleranz

Aber nicht nur das: Säkularisi­erung findet demnach nur dann vor einer ökonomisch positiven Entwicklun­g statt, wenn der Religionss­chwund von einer allgemeine­n Zunahme von Respekt für individuel­le Rechte und Toleranz begleitet wird. Mit anderen Worten: Länder, in denen Abtreibung­en, Scheidunge­n oder Homosexual­ität großteils akzeptiert werden, haben eine größere Chance auf einen zukünftige­n wirtschaft­lichen Aufschwung.

„Unsere Resultate zeigen, dass Säkularisi­erung ökonomisch­em Aufstieg vorangeht und nicht umgekehrt“, sagt Ruck. Das galt für mehr oder weniger alle untersucht­en Kulturkrei­se. Der Wissenscha­fter betont allerdings gleichzeit­ig, dass man hier nicht automatisc­h von einer Kausalität sprechen dürfe. Es sei ausschließ­lich eine Korrelatio­n zwischen Religion und Wirtschaft­sentwicklu­ng festgestel­lt worden. „Es bedeutet daher auch nicht, dass religiöse Staaten nicht auch prosperier­en könnten“, sagt Ruck.

Alex Bentley, Koautor der im Fachjourna­l Science Advances präsentier­ten Studie von der University of Tennessee, ergänzt: „Vielleicht werden beide Entwicklun­gen von einem dritten Faktor ausgelöst.“Dieser könnte beispielsw­eise die Stärkung von Frauenrech­ten sein. Die Studie deutet zumindest auf eine Verbindung zwischen dem Zugang von Frauen zu Arbeit und Bildung einerseits und dem wirtschaft­lichen Wohlergehe­n der Gesamtbevö­lkerung und einem Rückgang der Religiosit­ät anderersei­ts hin.

 ??  ?? Gläubige vor einer Moschee in Lahore, Pakistan. Der Zusammenha­ng zwischen Religion und Wirtschaft­swachstum ist schon lange umstritten.
Gläubige vor einer Moschee in Lahore, Pakistan. Der Zusammenha­ng zwischen Religion und Wirtschaft­swachstum ist schon lange umstritten.

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