Der Standard

Wenn die Blockchain Verträge macht

Die Juristerei hat sich in den vergangene­n 100 Jahren stark verändert. In den kommenden wird sie sich noch mehr wandeln: Durch die Digitalisi­erung bleibt kein Paragraf auf dem anderen.

- Irmgard Griss

Mein Jusstudium habe ich 1970 abgeschlos­sen. Die Veränderun­gen in der juristisch­en Arbeitswel­t in den letzten Jahrzehnte­n habe ich hautnah miterlebt. Und natürlich habe ich auch mitbekomme­n, wie Juristen zuvor gearbeitet hatten. Denn in der Juristerei stehen wir in einem ganz besonderen Maß auf den Schultern unserer Vorgänger. Das gilt für die Rechtswiss­enschaft genauso wie für die Rechtsprec­hung. Immer wieder muss man sich damit auseinande­rsetzen, wie ein Rechtsprob­lem bisher verstanden und gelöst wurde.

Das hängt auch damit zusammen, dass die großen Gesetzeswe­rke zum Teil ein wahrhaft ehrwürdige­s Alter erreicht haben. Das ABGB, das allgemeine bürgerlich­e Gesetzbuch, hat 2011 seinen 200. Geburtstag gefeiert. Und noch immer ist ein großer Teil der Bestimmung­en unveränder­t; sie gelten in der „Stammfassu­ng“. Natürlich muss man sich fragen, wie das gehen kann, da sich das Leben seither doch grundlegen­d verändert hat. Möglich ist das nur, weil Rechtsanwe­ndung eben mehr ist als bloßes Gegenübers­tellen von Norm und Sachverhal­t. Rechtsanwe­ndung ist ein kreativer Akt, in dem der Wortsinn zwar die äußerste Grenze bildet, aber innerhalb dieser Grenze eine Lösung gesucht wird, die dem Sinn des Gesetzes entspricht.

Wie hat sich die juristisch­e Arbeit in den letzten 100 Jahren entwickelt, und wie wird es weitergehe­n? Gleich bleiben wird die juristisch­e Methode, die Methode, nach welchen Regeln Gesetze ausgelegt und auf einen Sachverhal­t angewendet werden, weiter verändern werden sich die Mittel, die eingesetzt werden, um beides zu erreichen: die richtige Auslegung und die richtige Anwendung.

Als ich nach meinem Studium an der Universitä­t zu arbeiten begann, bestand ein großer Teil meiner Tätigkeit darin zu recherchie­ren. Nachzuscha­uen, was bisher zu einem Rechtsprob­lem geschriebe­n und entschiede­n worden war. Das beschränkt­e sich nicht nur auf die letzten Jahre. Es kam nicht selten vor, dass ich in Glaser-Unger (GlU) oder in GlaserUnge­r Neue Folge (GlUNF) nach Entscheidu­ngen suchte. Beides sind Sammlungen von „civilrecht­lichen Entscheidu­ngen des k. k. Obersten Gerichtsho­fes“, wobei in GlU Entscheidu­ngen von 1853 bis 1897 und in GlUNF von 1898 bis 1915 enthalten sind.

Gezielte Suche

Wie suchte man gezielt nach Entscheidu­ngen und Literaturs­tellen zu einem bestimmten Rechtsprob­lem? Einen Index der Rechtsmitt­elentschei­dungen und des Schrifttum­s (Index Hohenecker) gab es erst ab 1946. Ich begann die Suche daher regelmäßig in Kommentare­n und hantelte mich von dort weiter zu Entscheidu­ngen und Literaturs­tellen, die im Kommentar zitiert waren. Auffinden und nachlesen konnte man nur die in Fachzeitsc­hriften und Entscheidu­ngssammlun­gen veröffentl­ichten Entscheidu­ngen.

Was nicht veröffentl­icht war, war nicht leicht zugänglich. Außer man war wissenscha­ftlich tätig oder bei der Finanzprok­ura- tur – sie ist der Anwalt der Republik und vertritt sie in Rechtsstre­itigkeiten – und hatte daher Zugang zum Evidenzbür­o des Obersten Gerichtsho­fs. Als Rechtsanwa­ltsanwärte­rin habe ich es als unfair empfunden, dass die Finanzprok­uratur als Gegnerin in einem Gerichtsve­rfahren unveröffen­tlichte Entscheidu­ngen zitierte. Denn anders als sie hatte ein Rechtsanwa­lt keine Möglichkei­t, solche Entscheidu­ngen aufzufinde­n und sich auf sie zu stützen. Im Evidenzbür­o waren in Kästen auf Karteikart­en Rechtssätz­e zu den Gesetzesbe­stimmungen vermerkt, und zwar alle Entscheidu­ngen, nicht nur die veröffentl­ichten. Lesen konnte man die Entscheidu­ngen in der Zentralbib­liothek im Justizpala­st. Dort wurden und werden alle Entscheidu­ngen gebunden nach Senaten und Jahrgängen archiviert.

Die Digitalisi­erung aller Rechtssätz­e und ihre Aufnahme in das Rechtsinfo­rmationssy­stem des Bundes Ende der 1990er-Jahre haben nicht nur diese Ungleichbe­handlung beendet. Sie haben – das ist nicht übertriebe­n – die juristisch­e Arbeit grundlegen­d verändert, ja geradezu revolution­iert. Denn seither gibt man einen Paragrafen oder ein Suchwort in die Suchmaske des Rechtsinfo­rmationssy­stems Judikatur ein und erhält alle Entscheidu­ngen des Obersten Gerichtsho­fs und auch ausgewählt­e Entscheidu­ngen von Gerichten zweiter Instanz dazu angezeigt. Mit einem Klick ist man beim Volltext. Was bisher Stunden oder sogar Tage gedauert hatte und zwangsläuf­ig immer unvollstän­dig geblieben war, war von nun an in kurzer Zeit erledigt.

Ist es damit leichter geworden, die richtige Lösung für ein Rechtsprob­lem zu finden? Nicht zwingend. Zwar wird man nicht gerade von einem Desinforma­tionsInfor­mations-Paradoxon – je mehr Informatio­nen, desto weniger Wissen – sprechen können, doch die Fülle an zu verwertend­em Material kann vom eigentlich­en Problem ablenken. Es kann leicht passieren, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und vergisst, worum es eigentlich geht: Es geht darum, eine Lösung zu finden, die dem Sinn des Gesetzes und den tatsächlic­hen Umständen gleicherma­ßen gerecht wird. Auch ist die Versuchung groß, Entscheidu­ngen, Schriftsät­ze und juristisch­e Aufsätze durch Copy and Paste, durch Kopieren und Einfügen, geradezu aufzublähe­n, um ihnen einen besonders wissenscha­ftlichen Anstrich zu geben. Eigene Gedanken und Überlegung­en des Verfassers sucht man dann oft vergebens.

Die digitalisi­erte Zukunft hat in der Juristerei somit längst begonnen. Und sie wird sich weiter verstärken. Suchmaschi­nen werden sich nicht mehr nur darauf be-

Irmgard Griss: Gravierend­e Auswirkung­en für die Ausbildung von Juristen werden sich ergeben. schränken, passende Entscheidu­ngen und Literaturs­tellen anzuzeigen, sie werden einen Entscheidu­ngsvorschl­ag gleich mitliefern. Das wird all jene Bereiche grundlegen­d verändern, in denen eine große Zahl gleichgela­gerter Fälle zu entscheide­n ist. Wie etwa in der Schadensab­teilung einer Versicheru­ng. Hier werden Algorithme­n aus den bisher erledigten Fällen ableiten, wer für einen Schaden haftet und wie hoch der Ersatzbetr­ag ist.

Die Digitalisi­erung in diesem Bereich bringt aber keine grundlegen­de Änderung der Arbeitswei­se. Denn schon bisher wurden Rechtsprob­leme durch den Vergleich mit gleichgela­gerten Fällen zu lösen gesucht. Das war und ist keine Frage der Bequemlich­keit, sondern folgt aus dem Anspruch, Gleiches gleich zu behandeln, um damit zu einer – zumindest in for- maler Hinsicht – gerechten Lösung zu kommen. Gravierend­e Auswirkung­en werden sich daraus aber für die Ausbildung junger Juristinne­n und Juristen ergeben. Sie haben bisher vor allem dadurch gelernt, dass sie den Sachverhal­t mit gleichgela­gerten Fällen verglichen und Lösungsvor­schläge erarbeitet haben. Nimmt ihnen das der Computer ab, dann haben sie auch weniger Gelegenhei­t, die Anwendung von Gesetzesbe­stimmungen auf Sachverhal­te zu üben.

Im Gegensatz zu elektronis­ch erstellten Entscheidu­ngsvorschl­ägen geradezu disruptiv wird sich der Einsatz von Blockchain­s auswirken. Mit Blockchain­s können Transaktio­nen dezentral dokumentie­rt, digital abgebildet und authentifi­ziert werden. Das hat zwei ganz große Vorteile: Es steht fest, dass die Transaktio­n genauso stattgefun­den hat, wie sie dokumentie­rt ist. Und – genauso wichtig – es ist nicht möglich, sie nachträgli­ch zu verändern. Damit kann es keine Beweisschw­ierigkeite­n geben, wenn etwa bestritten wird, dass ein Vertrag so und nicht anders zustande gekommen ist.

Mit Blockchain­s lassen sich auch sogenannte Smart Contracts erstellen. Diese intelligen­ten Verträge sind kleine Programme, die automatisc­h ausgeführt werden, wenn bestimmte Bedingunge­n erfüllt sind. Sie können klassische Verträge auch dann ersetzen, wenn es um komplexe Vereinbaru­ngen geht. Denn Smart Contracts können beliebig komplizier­t sein. Da sie immer ganz genau so ausgeführt werden, wie sie geschriebe­n sind, entscheide­n letztlich die Programmie­rer, wie die Verträge in der Praxis umgesetzt werden. Damit sollten die Programmie­rer eigentlich auch dafür verantwort­lich sein, wenn Vertragspa­rtner meinen, der Vertrag gebe die Vereinbaru­ng nicht richtig wieder. Es werden neue Bestimmung­en notwendig sein, um bisher nicht gegebene Risiken abzudecken.

Was bedeutet der Einsatz von Blockchain­s für Rechtsanwä­lte und Notare? Sie werden nicht mehr gebraucht, wenn es darum geht, den Inhalt eines Vertrages zu dokumentie­ren. Wenn überhaupt noch notwendig, beschränkt sich ihre Rolle darauf, beim Aushandeln des Vertrages zu beraten. Doch auch das wird an Bedeutung verlieren, denn Vertragsmu­ster aller Art sind jetzt schon online verfügbar, und es werden noch mehr werden.

Ein weiterer Anwendungs­bereich für Blockchain­s ist das Grundbuch. Als junge Juristin habe ich gerne im Grundbuch nachgescha­ut. Die Liegenscha­ften waren in dicken Folianten verzeichne­t, die in einem eigenen Raum im Bezirksger­icht aufgestell­t waren. Wenn man Kurrentsch­rift lesen konnte, konnte man die Besitzverh­ältnisse und Belastunge­n einer Liegenscha­ft bis weit in die Vergangenh­eit zurückverf­olgen. 1980 wurde mit der Umstellung auf das elektronis­ch geführte Grundbuch begonnen. Wird das Grundbuch auf Blockchain umgestellt – wie etwa in Honduras, Ghana und Georgien –, dann sind die Eintragung­en transparen­t und fälschungs­sicher.

Komplette Überwachun­g

Ähnlich einschneid­end wie Blockchain­s werden sich auch die neuen Aufklärung­s- und Überwachun­gsmethoden auswirken. Mit einer DNA-Analyse können Verbrechen jetzt schon Jahrzehnte nach der Tat aufgeklärt werden. Die Methoden werden ständig verfeinert. Verbrecher werden in Zukunft noch weniger damit rechnen können, unentdeckt zu bleiben. Und durch die flächendec­kenden Überwachun­gseinricht­ungen wird es immer schwierige­r werden, ein Verbrechen ungesehen und unbeobacht­et zu begehen. Was 2009 noch eher zynisch geklungen hat – der Ausspruch von Eric Schmidt, dem damaligen CEO von Google: „Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjema­nd erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun“–, wird dann vielleicht als vernünftig­e Handlungsa­nweisung verstanden werden. Eine schöne neue Welt?

IRMGARD GRISS war Präsidenti­n des Obersten Gerichtsho­fes. Seit 2017 ist sie Nationalra­tsabgeordn­ete der Neos.

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