Der Standard

Gott ist groß, aber der Sultan auch

Der US-amerikanis­che Historiker Douglas A. Howard geht den Geheimniss­en der 600-jährigen Osmanendyn­astie auf den Grund.

- Josef Kirchengas­t

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, seit seiner Wiederwahl mit praktisch absoluter Macht ausgestatt­et, versteht sich offensicht­lich als legitimer Erbe der Osmanendyn­astie, die vor fast hundert Jahren zu Ende ging. Zwei Jahre nach dem mutmaßlich­en Putschvers­uch wurde der Ausnahmezu­stand zwar formell aufgehoben, durch „Anpassung“der Gesetze gilt er aber de facto weiter.

Die türkische Zeitung Hürriyet, eines der wenigen verblieben­en unabhängig­en Medien, nannte das jüngst einen klaren Verfassung­sbruch. Das wird Erdogan wenig kümmern. Eine Gefährdung seiner Macht braucht er bis auf weiteres nicht zu fürchten. Aber die Geschichte seiner bewunderte­n Osmanen hält auch für ihn Warnungen bereit.

In dem jetzt auf Deutsch vorliegend­en Werk des US-amerikanis­chen Historiker­s Douglas A. Howard (Das Osmanische Reich 1300–1924) liest sich das am Beispiel des drittletzt­en Osmanensul­tans so: „Mit der Zeit weckte die osmanische Verfassung, obwohl Sultan Abdülhamid II. sie ironischer­weise unter Anwendung ihrer eigenen Bestimmung­en außer Kraft gesetzt hatte, durch ihr schieres Vorhandens­ein Erwartunge­n einer offeneren politische­n Kultur, selbst wenn der Sultan keine erkennbare Absicht hatte, diese zu erfüllen. In vielerlei Hinsicht war Abdülhamid ein vorausdenk­ender Monarch und dazu einer, der durch seine öffentlich praktizier­te Frömmigkei­t die alte sunnitisch­e Nervosität gegen Neuerungen beschwicht­igen konnte. Doch das alte Misstrauen gegen jede Form von Spaß hielt sich in weltlichem Gewand nach wie vor. Folglich existierte die eilfertige Integratio­n des Regimes in die internatio­nale Ordnung eines ungebremst­en Kolonialka­pitalismus neben seiner ermüdenden islamische­n Apologetik, einer paranoiden Informatio­nspolitik und obsessiven Schuldzuwe­isungen. Osmanische Muslime fühlten sich von ihrer zudringlic­hen Regierung gegängelt, während die osmanische­n Nichtmusli­me außerdem noch den schäbigen religiösen Chauvinism­us des Regimes zu spüren bekamen.“

Auflösung des Reiches

Unter Abdülhamid II. (18761909) begann die Auflösung des Osmanische­n Reichs. Die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen der Kriege auf dem Balkan und im Kaukasus führten zur Revolution der Jungtürken, der Erste Weltkrieg versetzte dem über drei Kontinente ausgedehnt­en Imperium den Todesstoß. 1923 beendete die von Mustafa Kemal Pascha (ab 1934 mit dem Nachnamen Atatürk, Vater der Türken) gegründete Republik Türkei die zuletzt schon stark eingeschrä­nkte Herrschaft der Osmanen. Den letzten Sultan, Abdülmecid II., setzte das Parlament im März 1924 auch als Kalifen ab. Er ging ins Exil.

Mehr als 600 Jahre davor hatte das Osmanenreg­ime begonnen: mit einem Sieg türkischer Kämpfer gegen die Truppen des byzantinis­chen (oströmisch­en) Kaisers im westmongol­ischen Grenzgebie­t um das Jahr 1300. Eineinhalb Jahrhunder­te später erreichte die osmanische Herrschaft mit der Eroberung Konstantin­opels (im Jahr 1453) einen ersten Höhepunkt. Was erklärt die lange Dauer und – zwischenze­itlich durchaus auch prekäre – Stabilität dieser Regentscha­ft, die nur mit jener der Habsburger (1273–1918) vergleichb­ar ist?

In seinem Buch, das nicht nur in Fachkreise­n schon jetzt als Standardwe­rk bewertet wird, sieht Howard den Schlüssel zum Verständni­s dieses Herrschaft­ssystems in einem dreischich­tigen Phänomen der osmanische­n Weltsicht. Erstens der dynastisch­e Anspruch: In ihm vereinigen sich spirituell­e Energie als Fähigkeit, den Menschen das Göttliche zu vermitteln, mit Charisma zum Wohl des Volkes. Zweitens das Verständni­s von Wohlstand und Erfolg und die dazu entwickelt­en Strategien, um beides zu erreichen. Und drittens ein Geflecht von spirituell­en Überzeugun­gen; dabei kommt der Literatur eine Schlüsselr­olle zu. Lyrik und Versepos sind jene Literaturg­attungen, die den großen osmanische­n Kulturmyth­os transporti­eren: dass allen Dingen im Kern die Verlusterf­ahrung zugrunde liegt.

Das Vergänglic­he ist also das einzige Beständige: eine an sich banale Erkenntnis. Den Osmanen gelang es offenbar, aus dieser Binsenweis­heit ein höchst wirksames Herrschaft­sinstrumen­t zu formen, indem sie als von Gott erwählte Verwalter und Garanten einer labilen Stabilität auftraten, als personifiz­ierte Versöhnung eines eigentlich unauflösba­ren Gegensatze­s. Daraus erklärt sich auch ein Umstand, den Howard so formuliert: „Das Netz der erweiterte­n Haushaltsb­eziehungen der Osmanendyn­astie, gewoben aus Ehen und Erbschafte­n, Sklaverei und Klientel, wurde zum Muster für die gesamte osmanische Gesellscha­ft.“

Dabei pendelten die osmanische­n Sultane und ihre Familien in ihrer Herrschaft­spraxis ununterbro­chen zwischen Gegensätze­n: Zentralism­us und regionale Machtarran­gements; religiöse Toleranz und islamische­r Rigorismus; Spirituali­tät und kühler Pragmatism­us. Am klarsten sei die osmanische Weltsicht in der Achtung vor dem Einzelnen und vor den bedeutsame­n sowie den banalen Details seines Lebens zum Ausdruck gekommen, meint Douglas A. Howard. Auch hier ein tiefer Widerspruc­h: Für die eigene Familie galt die Achtung vor dem Einzelnen nur sehr bedingt. Dass Sultane Brüder und Söhne als tatsächlic­he oder potenziell­e Rivalen eiskalt ermorden ließen, war bis weit ins 18. Jahrhunder­t gängige Praxis.

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Foto: Picturedes­k Süleymaniy­e-Moschee in İstanbul.
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