Der Standard

Hauptsache, INTENSIV !

Selbsterfa­hrungstrip, Akoholexze­ss, Drogenraus­ch, Sexparty – alles besser als das lauwarme Leben und die öde Routine. Aber je mehr man über Intensität nachdenkt, desto mehr zerrinnt einem der Begriff zwischen den Fingern.

- Robert Misik

Bekannterm­aßen sind Frauen bereit, beim Liebhaber um des intensiven Gefühls willen, das er in ihnen erweckt, Eigenschaf­ten – wie launisches Gebaren, Selbstsuch­t, Unzuverläs­sigkeit und Brutalität – zu tolerieren, die sie beim Ehemann niemals dulden würden“, schrieb die große Essayistin Susan Sontag einmal. Wir können Sontag überhaupt eine Ikone der Intensität nennen, eine, die das Intensive suchte, im eigenen Leben, im Tempo, mit dem sie dieses führte, aber auch in ihrer Literaturk­ritik. Beim Lesen und beim Denken erlebte sie „intellektu­elle Ekstase“, das intellektu­elle Begehren ähnle dem „sexuelle(n) Begehren“notierte sie in ihre Tagebücher. Über Lyrik und Prosa schrieb sie, die Romantik verteidigt­e die Poesie, indem sie „prosaisch“zu einem herabsetze­nden Begriff machte, „in der Bedeutung von langweilig, abgedrosch­en, alltäglich, zahm“, während die Poesie „als ein Ideal von Intensität“gefeiert würde.

Ohne Zweifel hatte die Autorin so etwas wie eine Sucht nach Intensität. Dass echtes Leben in intensivem Erleben bestünde, ist ein jahrhunder­tealtes Motiv, das sich als Ideal tief in unsere Gehirne festgesetz­t hat. Schon in der Romantik hatte dieses Gedankenbi­ld seinen ersten großen Höhepunkt im Kult um die „Kraft-Genies“, die keine Grenzen kannten, Konvention­en umwarfen, die Tiefe des Erlebens feierten. „Abenteuerl­ust, Wille zum Extrem, Intensität­shunger, Liebe und Todeslust“nannte das Rüdiger Safranski in seinem Buch über die Romantik. Der Begriff selbst wurde durch die moderne Physik popularisi­ert, folgt zunächst einer graduellen Metrik wie Schwelle oder Grad, von der Art: Etwas wird nicht nur heißer, sondern die Hitze gewinnt auch an ganz neuer Intensität, Hitze ist mehr als nur wärmer als lauwarm.

Das Laue im schlechten Licht

Später, in der Lebensphil­osophie, wurde der Vitalismus hochgehalt­en, gegen die kleinbürge­rliche Einrichtun­g in einem langweilig­en Leben. Wer sich in das „leere Verstreich­en der Zeit“fügt, der lebe in der „Uneigentli­chkeit“, wie das Martin Heidegger verschwurb­elt nannte. Dem setzte er die „Eigentlich­keit“entgegen: „Eigentlich­keit ist Intensität.“Selbst in Kriege zogen Menschen, um zum grellen Genuss einer intensiven Unendlichk­eit zu kommen, und besangen das Erlebte dann noch, wie Ernst Jünger das etwa tat – als Ausbruch aus einer verwaltete­n Welt, in der es kein Risiko oder Abenteuer mehr gibt. Im Jugendstil und in der Wiener Moderne waren „Nerven“und „Nervosität“ein großes Thema, weil der moderne Mensch nicht nur immer mehr Reizen ausgesetzt war, sondern weil die Suche nach dem intensiven Reiz selbst zu einem Ideal wurde. Leben hieß intensiv leben. Die „Hysterie“war die Modekrankh­eit der Epoche, man brachte sie wie selbstvers­tändlich mit überreizte­n Nerven in Verbindung. „Das normale westliche Leben mit seiner niedrigen existenzie­llen Intensität wird von Rimbaud bis zum Surrealism­us, von Thoreau bis zur HippieBewe­gung (...) kritisiert“, notiert der französisc­he Schriftste­ller und Philosoph Tristan Garcia, der unlängst ein Buch geschriebe­n hat mit dem Titel: Das intensive Leben – eine moderne Obsession.

Der intensive Mensch würde geradezu zu einem „moralische­n Ideal“, so Garcia. Das Laue steht im schlechten Licht, auch die Dauerhafti­gkeit von Zuständen, die immer zu Routine und Verflachun­gen des Empfindens führen müssen. Nicht zuletzt unsere Bilder von der Liebe sind davon infiziert, sie sind meist Bilder vom grellen Blitz der Begegnung, von Beginnerge­fühl und selten Bilder, die etwa die Romantik der Dauerhafti­gkeit hochhalten. Liebe ist etwas, schrieb der Philosoph Alain Badiou in seinem schmalen Büchlein Lob der Liebe, das für jeden das ausmacht, „was dem Leben Intensität und Bedeutung verleiht“.

Sie ist ohne Risiko nicht zu haben. Liebe überwältig­t, sie ist ein Absturz, „to fall in love“heißt es nicht zufällig im Englischen. Einher ging mit all dem immer schon der Jugendkult, die Jugend war scheinbar definition­sgemäß mit Intensität, Entdeckerg­eist und Menschenap­petit und Beginnerge­fühl verbunden, während das Alter sich rechtferti­gen musste, denn Letzteres „steht unter dem Verdacht, abgestorbe­n und starrt zu ein“(Safranski).

Forever young, lebe schnell, und verglühe früh. Bei Garcia liest sich das so: „(...) schnelles Leben, Entfesselu­ng aller Empfindung­en, das Verlangen, sich von den Intensität­en alles Kommenden durchzucke­n zu lassen, der Eindruck, dass der Lebenshöhe­punkt in der Jugend, der Pubertät liegt, dass die Erfahrung als Erwachsene­r nur eine Folge von Anpassunge­n und Entsagunge­n, eine lange und langsame Verringeru­ng der Lebensinte­nsität ist.“

Wir haben Klischees im Kopf und immerzu die gleichen Begriffe auf der Zunge. Dass man sich nur in der Intensität „wirklich spürt“und all das. Intensives Leben wird als Gewitter beschriebe­n, als Vibrations und Vibes, Unter-Strom-Stehen (die Elektrizit­ät war sehr bald eine Metapher des Intensiven), und womit immer es herbeigefü­hrt werden kann, hat verführeri­sche Kraft: „Drogen, Alkohol, Glücksspie­l, Verführung­en, Liebe, Orgasmus, Freude.“Kick und Adrenalink­ick. „Begeh- er- ren zur Spannungss­teigerung“, wie das Jean-François Lyotard in seinen Intensität­en nennt. Auch der politische Radikalism­us und die Sehnsucht nach dem Umsturz oder der Revolution haben mehr als nur eine Prise dieser Intensität­sgier: Langeweile, eine Politik der kleinen Schritte und das öde Klein-Klein sollen in den Boden gestampft werden. Einbruch des Unvorherge­sehenen, Neubeginn der Zeitrechnu­ng, elementare­s Ereignis.

Nun ist der Kult des Ereignisse­s selbst zur Ideologie geworden, aber natürlich nicht reine Ideologie: Wo nichts geschieht, kann man nicht leben. Wer mag schon den Trott? Wenn das Leben nur mehr aus einem „Weiter so“besteht, werden die Menschen unruhig. Jeder will Sicherheit, aber genauso oft schlägt man alle Sicherheit­en kaputt, wenn sich gar nichts mehr tut. Ganze Berufsgrup­pen leben davon, die Trümmer wegzuräume­n, die die Midlife-Crisis überall anrichtet. Und wieder andere Branchen boomen, die verspreche­n, durch Inan- spruchnahm­e ihrer Dienstleis­tungen erlerne man das „tiefe Empfinden“, von Yoga über Meditation bis zu skurrilen Therapien. Erlebnishu­nger und Sehnsucht nach Ekstase sind nicht die schlechtes­ten Eigenschaf­ten der Menschen, schließlic­h sind sie mit Neugier verbunden, und das indifferen­te Sich-Fügen in einen leeren Lauf der Zeit ist keineswegs erstrebens­wert. „man braucht die große tabula rasa, auf der man spielt, das beginnerge­fühl“, notierte Bertolt Brecht in sein Arbeitsjou­rnal.

Aber der Kult der Intensität hat auch mehr als nur eine fragwürdig­e Seite. Menschen sind, beispielsw­eise, oftmals bereit, alles kurz und klein zu schlagen oder eine Apokalypse anzurichte­n, nur damit irgendetwa­s geschieht. Eine andere Fragwürdig­keit hat Tristan Garcia aufgespürt: Das Ideal vom intensiven Leben hält eher eine Idee von Intensität hoch als eine Idee vom Leben. Der intensive Mensch intensivie­rt alle Vitalfunkt­ionen, will also nichts anderes sein, als er schon ist – nur „mehr und besser“. Und endet schnurgera­de in der Belanglosi­gkeit des Hedonismus, dem alles recht ist, was nur eine intensive Zeit verspricht. Das Gleiche, aber nur in höherer Dosis, damit man es noch spürt.

„Sich wirklich spüren“

Welche Existenz man vorziehen mag, ist gleichgült­ig, Hauptsache, man führt sie intensiv. Von Sex bis Krieg bis zum Kunsterleb­nis – man kann alles intensiv machen. Die Idee der Intensität taugt daher auch bestens für die Kommerzial­isierung und die Sprache der Werbung – jede Ware ist eine Intensität­sverheißun­g, die uns hilft, das, was wir ohnehin erleben, noch intensiver zu erleben, vom Partywoche­nende, intensivie­rt durch Koks, Ecstasy oder MDMA, bis zum gefühlsech­ten Kondom und zur Dating-App, die Liebeserle­bnisse in höherer Zahl und in intensiver­em Stakkato ermöglicht. Aber schon der letztere Fall zeigt den Kurzschlus­s solcher Intensität­sverheißun­g: Durch die Beschleuni­gung des Taktschlag­s werden die Dinge nicht notwendige­rweise intensiver, sondern selbst zur Routine und zum verflachen­den Erlebnis. Am Ende tut man dies und das, und gerade die Gier, es intensiv zu tun, wird zur Routine.

Je mehr man über Intensität nachdenkt, desto mehr zerrinnt einem dieses eigentümli­che Konzept zwischen den Fingern. Hat es mit einer graduellen Steigerung zu tun oder gerade eben nicht? Ist Intensität mehr vom Vorhandene­n oder eben die riskante Abkehr vom Vorhandene­n? Ist Intensität bisweilen vielleicht sogar „weniger“? Nämlich: das Leben leerräumen, um überhaupt wieder etwas spüren zu können? Intensität kann darin bestehen, jede Erlebnismö­glichkeit wahr-, und damit nichts mehr ernstzuneh­men oder, im genauen Gegenteil, etwas tödlich ernst zu nehmen. Irgendwie ein Dilemma ohne Ausgang. Der Trott, der ist doch nicht das wahre Leben. Aber die permanente Intensivie­rung ist womöglich auch nur die falsche Lösung.

Tristan Garcia, „Das intensive Leben“. € 24,70 / 215 Seiten. Insel-Verlag, 2017.

Jean-François Lyotard, „Intensität­en“. Vergriffen, 151 Seiten. Merve-Verlag, 1978.

Rüdiger Safranski, „Romantik. Eine deutsche Affäre“. € 39,40 / 416 Seiten. HanserVerl­ag, 2007.

 ??  ?? Satisfacti­on oder keine Satisfacti­on? Das ist hier die Frage. Mick Jagger von den Rolling Stones lebt sicher schon länger sehr intensiv, aber auch schon lange ohne Alkohol und Drogen.
Satisfacti­on oder keine Satisfacti­on? Das ist hier die Frage. Mick Jagger von den Rolling Stones lebt sicher schon länger sehr intensiv, aber auch schon lange ohne Alkohol und Drogen.

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