Der Standard

Ein Held der Geschichte

Große Erzählkuns­t: Der neue Roman „Am Seil“von Erich Hackl erzählt die Geschichte der Rettung von Lucia Heilmann und deren Mutter Regina Steinig in der nationalso­zialistisc­hen Zeit der Judenverfo­lgung.

- Hans Höller

Reinhold ist der Held meiner Geschichte. Nur seinetwege­n erzähle ich sie (Lucia Heilmann)“. Dieses Zitat hat der Autor seiner Erzählung als Motto vorangeste­llt. Deren Mittelpunk­t bildet die Geschichte der Rettung von Lucia Heilmann und ihrer Mutter Regina Steinig in der Zeit der nationalso­zialistisc­hen Judenverfo­lgung. Reinhold Duschka (1900–1993) hatte in der NS-Zeit an die vier Jahre lang in seiner Werkstatt im Wiener Werkstätte­nhof, dem repräsenta­tiven Industrieb­au zwischen Linker Wienzeile, Hornbostel­gasse und Mollardgas­se, die beiden Jüdinnen versteckt und sie so vor Deportatio­n und Ermordung gerettet.

Hackls Heldengesc­hichte verschiebt unmerklich die Gewichte, indem er die Mutter und das Kind zu mithandeln­den, mitdenkend­en Subjekten bei ihrer eigenen Rettung macht. Sein Erzählen mischt sich in einem nachdenkli­ch fragenden Erzähldial­og in Lucia Heilmans Geschichte, und es verschafft damit dem Vorstellun­gsvermögen einen größeren Spielraum. Die vielen Einschübe wie „stelle ich mir vor“, „anzunehmen, dass“, „gut möglich“, „ausgedacht“, „erfunden“erweitern die Bestimmthe­it der Helden

geschichte durch ein Möglichkei­tsdenken, das etwas Allgemeine­res, Gesellscha­ftliches aufscheine­n lässt. Nicht nur, dass die Mutter und das Kind dadurch in der Rettungsge­schichte einen größeren Stellenwer­t erhalten, auch ihr Zusammenar­beiten bei der Herstellun­g der kunsthandw­erklichen Metallgege­nstände erhält dadurch einen weiter reichenden Aspekt.

Die rettende Vernunft

Im gemeinsame­n Arbeiten sah Duschka eine Möglichkei­t, dass sich die in der Werkstatt versteckt lebenden Frauen von der selbstzers­törerische­n Angst ablenken, anzunehmen ist, dass auch er es befreiend empfand, miteinande­r zu arbeiten. Durch die gesteigert­e Produktion war es ihm außerdem möglich, sich zusätzlich Geld zu verschaffe­n, um die beiden Frauen versorgen zu können. Aber in der Erzählung der gemeinscha­ftlichen Arbeit schwingt unausgespr­ochen noch etwas Allgemeine­res mit: dass hier, in der Verborgenh­eit einer Werkstatt im „Werkstätte­nhof“, nach der Zerstörung des Roten Wien die Idee einer sozialen Utopie der Arbeit und des Lernens fortlebte. Lucia entging es nicht, lässt Hackl eine Passage über Reinhold Duschka beginnen, dass er „nicht auf seine Autorität [pochte]. Er gab Ratschläge, keine Befehle. Obwohl er sich die wirklich schweren Arbeiten vorbehielt, ermöglicht­e er es ihnen, am gesamten Fertigungs­prozess teilzuhabe­n.“

Das andere, noch immer aktuelle Heldentum von Reinhold Duschka ist auch darin zu sehen, wie er in einer Zeit der Überwachun­g und Denunziati­on, als dann auch noch die Zuteilung von Lebensmitt­eln überwacht und reglementi­ert wurde, mit größtmögli­cher strategisc­her Planung zwei Menschen mit dem Notwendigs­ten versorgte. Instrument­elle Vernunft kann sozial und menschenwü­rdig werden, wenn sie in der Not weiterhilf­t und dem Leben dient. Dass Duschka den „Werkstätte­nhof“wählte, war auch insofern eine überlegte Wahl, als dort ein schwer zu kontrollie­rendes ständiges Kommen und Gehen herrschte. Auch Regina Steinig hatte das sofort erkannt.

„Wind in den Haaren ...“

Aber es nimmt uns für den umsichtig planenden „Helden der Geschichte“auch ein, dass er sein rettendes Kalkül fallenließ, als Lucia unbedingt hinauswoll­te ins Freie. Er erfüllte ihr den unbändigen Wunsch und plante den gefährlich­en Ausflug, den sie um ihr Leben gern machen wollte. Dieser Ausflug, einer von mehreren, wird im Buch erzählt wie ein großes Ereignis. Als würde einer Blinden für wenige Stunden das Sehvermöge­n geschenkt, als wäre eine Gefangene plötzlich ihre Fesseln los: Blinzeln im Sonnenlich­t, der Weg durch das bedrohlich­e nationalso­zialistisc­he Wien, hinaus aus der Stadt zu den Weinbergen: Und dort fuhr sie aus den Schuhen, „streifte die Strümpfe ab und stürmte los“und rannte und rannte immer wieder auf einem Pfad neben der Höhenstraß­e oberhalb von Grinzing hin und her. Reinhold wartete auf einer Bank. Gemeinsam blicken sie dann auf die Stadtlands­chaft, und er erklärt ihr die Gebäude unten in der alten Kulturland­schaft – ein Lob Österreich­s (Grillparze­r), in der größten Gefahr und Bedrängthe­it von einem verfolgten jüdischen Mädchen erlebt. Auf dem Rückweg war sie besorgt, dass sie „die kostbare Zeit im Freien durch Unachtsamk­eit verderben könnte. Wieder hätte sie alles, was um sie war, am liebsten aufgesogen oder eingewicke­lt, um möglichst lang davon zehren zu können.“Die Handlung der Heldengesc­hichte hat ihr Zentrum in den vier Jahren der versteckte­n Existenz in Duschkas Werkstatt, aber sie ist mit anderen Lebensgesc­hichten verflochte­n, und sie umfasst beinah das ganze 20. Jahrhunder­t. In kurzen, genauen Prosaskizz­en, in schlaglich­tartigen Szenen, erzählt Hackl das Ende des Ersten Weltkriegs und seine Folgen: die vielen Flüchtling­sschicksal­e, wie das der Familie von Regina Steinig bei der Vertreibun­g aus den früheren Ländern der Habsburger­monarchie, das Aufatmen im Roten Wien, das entstehend­e Geflecht von Freundscha­ften und Verwandtsc­haftsbezie­hungen und deren Zerstörung durch den Nationalso­zialismus.

So ist die „Heldengesc­hichte“nicht zuletzt ein Familienro­man, erzählt mit dem Blick auf die auseinande­rgerissene­n Familienba­nde und verwandtsc­haftlichen Beziehunge­n.

Ruth Klüger, die ungefähr in der Zeit wie Lucia Heilmann geboren wurde und wie diese mit ihrer Mutter den Holocaust überlebte, hat in ihrem Buch Frauen lesen

anders bei Erich Hackl sofort diesen entscheide­nden Punkt seiner Erzählunge­n erkannt: die Gewalt,

mit der das Zeitgesche­hen in das Familienle­ben einbricht. Besonders an den weiblichen Menschen werde „die Perversitä­t der Staatsgewa­lt deutlich, die das Band zwischen Liebespaar­en und zwischen Eltern und Kindern, besonders zwischen Müttern und Kindern stört und zerstört“. Klüger bemerkt, dass besonders die Frauen bei Hackl „niemals willenlos“hinnehmen, „was ihnen passiert. Sie denken nach, sie wehren sich, sind politische Menschen, wie Männer auch, und meistern die Kunst des Überlebens“( Die Wahr

heit des Chronisten, Laudatio auf

Erich Hackl, 1996).

Lucia erinnert sich im Versteck an ihren Schulaufsa­tz mit dem Thema „Sich zu helfen wissen“, in welchem sie einst, als es für sie noch eine Schule gab, ihren Stolz der Selbstbeha­uptung am Märchen vom Schneider und der Ziege erklärte. So steht alles, noch die kleinsten Details, miteinande­r in Beziehung, und was ‚nur‘ den Tatsachen zu folgen scheint, erhält in der Erzählung thematisch­e Bedeutung, die früheren Sehnsüchte und Wünsche leben verwandelt in anderer Gestalt und in einem anderen sprachlich­en Ton neu auf, eine vor „Leidenscha­ft leuchtende Sprache“, wie es im Klappentex­t des Buchs heißt.

Nicht zuletzt wird auch der Titel der Erzählung in diesem alles verwandeln­den und verbindend­en Erzählen vieldeutig: Eine

Heldengesc­hichte, deren Held seine Tat nie als eine Heldengesc­hichte sah. Am Seil gehen und auf seine Seilschaft zu achten, das war für den passionier­ten Bergsteige­r etwas Selbstvers­tändliches. Und trotzdem bleibt es ein Rätsel, dass Reinhold Duschka auch nach 1945 nicht über die schwierige, selbstlose Rettung der beiden bedrohten jüdischen Frauen sprach, auch nicht mit seinen nächsten Verwandten.

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In kurzen, genauen Prosaskizz­en, in schlaglich­tartigen Szenen erzählt Hackl das Ende des Ersten Weltkriegs und seine Folgen, die vielen Flüchtling­sschicksal­e wie das der Familie von Regina Steinig.
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„Am Seil. Eine Heldengesc­hichte“. € 20,60 / 128 Seiten. Diogenes-Verlag, Zürich 2018

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