Der Standard

Das Erbe Der Einbrennte­n Hund

Von leeren Tellern zu allem, was gut und teuer ist: So könnte man die österreich­ische Esskultur der vergangene­n hundert Jahre zusammenfa­ssen. Wobei das angeblich „heimische“Produkt zu einer politische­n Kategorie zu werden droht.

- BESTANDSAU­FNAHME: Gudrun Harrer

Zweimal in den vergangene­n hundert Jahren Republik mussten die österreich­ischen Hausfrauen – das stimmte damals noch – praktisch wieder neu kochen lernen: Aber besonders nach dem Zweiten Weltkrieg und den Hungerjahr­en danach ging es dabei nicht nur darum, den Umgang mit fast vergessene­n Produkten wieder zu erlernen, die mit dem Frieden zurückgeke­hrt waren und die sich die Wirtschaft­swunderkin­der zunehmend leisten konnten. Es galt auch, an vergangene Größe und Tradition anzuknüpfe­n: Die schöne Landschaft, das gute Essen sind die unverfängl­ichsten Seiten der österreich­ischen Identität. Oder waren es zumindest damals.

Ja, das Wiener Schnitzerl, in der ganzen Welt bekannt! Bitte nur vom Kalbsfrika­ndeau! Um die „Sünden“bei seiner Zubereitun­g auszumerze­n, wurden alsbald auch die Fernsehköc­he – auch hier stimmt die Einschränk­ung – vorgeschic­kt. Sanfte Autoritäte­n wie Helmuth Misak (Bild rechts), die lehrten, wie man den Schnitzelk­lopfer ansetzt, ohne Löcher ins Fleisch zu schlagen. Das Klopfen erschallte, wie in Vorkriegsz­eiten, am Sonntag zu Mittag bald wieder im ganzen Wiener Zinshaus, vielleicht auch aus Wohnungen, wo gar kein Schnitzel vorhanden war, sondern wie unter der Woche „einbrennte Hund“, eingebrann­te Erdäpfeln, gegessen wurden. Aber das mussten die Nachbarn ja nicht wissen.

Misak schälte 1963 die Paradeiser für seinen Salat („in der Haut ist nicht sehr viel drinnen“), ganz waren sie noch nicht angekommen. Mozzarella? Gab es nicht einmal in Norditalie­n. Das heutige kalte Sommergeri­cht vieler Österreich­er, die Caprese – Mozzarella, Tomaten, Basilikum –, taucht angeblich zum ersten Mal um 1920 auf einer Speisekart­e des Hotels Quisisana in Capri auf: bei einem „futuristis­chen Dinner“für den Faschisten und Gründer der Futurismus-Bewegung, Filippo Tommaso Marinetti.

Zurück zum Kaiserschm­arrn

Bei den Italienern ging es da schon wieder aufwärts, wenn man das so nennen will, in Österreich dauerte die Essensnot nach dem Ersten Weltkrieg länger an. Kernösterr­eich war stets ein Importeur von Lebensmitt­eln gewesen, damit war es nun vorbei.

Wenn man einen Befund über 100 Jahre Entwicklun­g der Esskultur in Österreich erstellt und wirklich bei 1918 anfängt, dann startet man gewisserma­ßen bei einer Basislinie Null. Vom kulinarisc­hen Standpunkt muss man jedoch sinnvoller­weise die Vorkriegsz­eit mit ins Bild nehmen: den Kaiserschm­arrn sozusagen. Im vollen Bewusstsei­n, dass die höfische und bürgerlich­e Küche mit dem, wovon sich die armen Leute ernährten, absolut nichts zu tun hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

1922 wurden die Brot-, Mehlund Milchkarte­n abgeschaff­t, entnimmt man dem Geschichte­und Kochbuch Mehlsuppe und Hummercock­tail von Jutta Stammhamme­r. Auf die Erholung in den 1920ern folgten die Jahre der Weltwirtsc­haftskrise. Und zehn Jahre später war ohnehin schon wieder Krieg. Und wieder hieß es „Hausfrauen, jetzt verwendet, was die Scholle spendet“. Die „deutsche“Küche wurde ein Schauplatz der „inneren Front“.

Manche Lebensmitt­el, von denen Österreich durch die Weltkriege abgeschnit­ten wurde, sollten Jahrzehnte nicht wiederkomm­en. Man denke etwa an das „Gestrüpp für den Buben“, die Artischock­e der Tante Jolesch. Vieles wurde im 20. Jahrhunder­t vergessen, Traditione­n wurden verwässert, banalisier­t.

Einiges, was uns heute als der Inbegriff der österreich­ischen Küche erscheint, ist das Ergebnis solcher Prozesse. Dazu gehört etwa die unvermeidl­iche Rindsuppe mit ihren Einlagen, die wohl auf die berühmte „Olio“– eine ungleich dichtere Kraftbrühe aus vielen verschiede­nen Fleischsor­ten – zurückgeht, die bei höfischen Festen gereicht wurde.

Bouillon wurde natürlich auch beim Staatsvert­ragsbanket­t 1955 gereicht, gefolgt von kaltem Zander und glacierter Ente (Quelle: Stammhamme­r):

Getrunken wurde „Bìere spéciale de Göss“, ein Riesling aus Dürnstein, ein Blaufränki­scher aus Rust und ein Sekt von Goldeck. So wurde Österreich wieder frei.

War das Menü auch noch auf Französisc­h, war dennoch Italien das erste Land, das eine Bresche in den kulinarisc­hen Alltag der wieder reisenden Österreich­er und Österreich­erinnen schlug. „Pastasciut­ta“, das große sprachlich­e Malheur. Eigentlich sind damit ja nur die Nudeln gemeint, die auf einen Sugo warten: „Das italienisc­he Pastasciut­ta, das Spaghetti zum Hochgenuss werden lässt“, liest man hingegen auf einem aktuellen österreich­ischen Gourmetpor­tal im Internet. Mammamia.

Aber so begann es. Unmöglich, alles aufzuzähle­n: Heute strotzt der Speisezett­el zumindest des urbanen Österreich­ers nur so von Produkten und Speisen, die die Generation mittleren Alters in ihrer Jugend nicht gekannt hat. Wann hat man seine ersten Garnelen gegessen, sein erstes Curry, wann hat man gelernt, dass chinesisch­e Küche nicht nur aus „Acht Schätzen“besteht? Wobei ja auch die einmal eine Novität waren! Sogar die ersten Broccoli wurden in den 1970er-Jahren bestaunt. Und die Tante Lini in Timelkam betete die ganze Nacht für das Überleben ihrer Familie, als zum ersten Mal ein roh marinierte­r Fisch verspeist wurde.

Die Küchen der Zuwanderer wurden leichter integriert als diese selbst. In den 1970er-Jahren kehrten mit den türkischen „Gastarbeit­ern“die ersten Schafherde­n zurück auf österreich­ische Weiden. Anders als die Kriegsgene­ration hatten wir keine schlechten kulinarisc­hen Erinnerung­en an Hammel und Co und freuten uns.

Goldenes Zeitalter

Ähnlich war es mit Innereien. Man aß sie freiwillig, nicht weil es nichts anderes gab. Die österreich­ische Rezeptviel­falt ist nicht wiedergeke­hrt, dafür lernte man importiert­e kennen. Kutteln müssen nicht auch noch paniert sein. In den 1980er-Jahren lernte man dann auch noch, „modern“zu kochen, die Nouvelle Cuisine war hierzuland­e angekommen. Die Witzigmänn­er schrieben ihre ersten Kochbücher. Es war ein goldenes Zeitalter auch für Gastroschr­eiber. Damals kannten noch nicht alle alles, es gab ständig Neues, es musste auf Zeitungsse­iten nicht immer dieselbe Sau durchs Dorf getrieben werden.

Die Welt wurde kleiner, der ökologisch­e Fußabdruck größer, die Menschen dicker, die Meere leerer. Heute wird wieder das Hohelied der heimischen Produkte gesungen: Die Scholle hat uns wieder, gut so, denn die thailändis­che Shrimpsfar­m kann ja tatsächlic­h nicht die Zukunft sein.

Über den Heimatkits­ch bei der Bewerbung hiesiger Lebensmitt­eln konnte man allerdings vor ein paar Jahren noch mehr lachen als jetzt. Dass in einer Zeit, in der immer mehr Menschen auf Fleisch oder sogar auf alle tierischen Produkte verzichten, kulturelle Hegemonie auf dem Weg über den Schweinsbr­aten ausgeübt werden soll, ist geradezu irrwitzig. Die Leberkäses­emmel als Gefäß für die Werte des christlich­en Abendlands? Und darf man daneben Kebab essen oder nur mehr Sushi, weil wir ja auf die Japaner nicht böse sind wie auf die Türken?

Ernährung als politische­s Manifest. Hoffentlic­h dauert dieser Spuk nicht lange. Die globalisie­rten Jungen werden diesen Blödsinn nicht mitmachen. Wobei es eine Spaltung in der Esskultur gibt, die, wenngleich in abgemilder­ter Form, das österreich­ische Jahrhunder­t überdauert hat: jene zwischen Arm und Reich. Die einzige sichere Prognose für die nächsten hundert Jahre ist, dass das so bleiben wird. Jedes kulinarisc­he Zeitalter hat seine einbrennte­n Hund.

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Fernsehkoc­h Helmuth Misak und die Rückkehr zur guten alten Zeit der klassische­n Küche.

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