Der Standard

100 Tage Andrea Nahles

Vor 100 Tagen übernahm die Fraktionsv­orsitzende die am Boden liegende SPD. Die Wahlen in Hessen und Bayern werden zur ersten – oder schon letzten – Bewährungs­probe.

- REPORTAGE: Cornelie Barthelme aus Frankfurt

Im April übernahm die Fraktionsv­orsitzende eine desolate SPD. Die Wahlen in Hessen und Bayern werden zur Bewährungs­probe.

Prinzessin­nen findet Ella daneben. Absolut. Ihr Held heißt momentan David. Der mit Goliath, kennt jeder. Die Geschichte ist so populär, weil sie einen Menschheit­straum erfüllt: Der Schwache besiegt den Starken, der Chancenlos­e nutzt seine Chance, der Loser ist gar keiner.

Ellas Mutter, SPD-Vorsitzend­e Andrea Nahles, steht gerade inmitten dreier einigermaß­en durchgekna­llt wirkender Damen, die sehr gern Prinzessin­nen wären. Es ist ein heiteres Bild. Der Himmel blau, die Sonne gelb – Nahles trägt Rot, die anderen Grün. Witzig, dass niemand politische Farbanspie­lungen macht. In diesem ersten Sommer der dritten großen Koalitions­regierung von Angela Merkel (CDU) bringen es SPD und Grüne in den Umfragen gemeinsam auf maximal 32 Prozent; das schafft die Union knapp auch alleine. Rot-Grün aber ist vom Regieren so weit entfernt wie Berlin vom Mond.

Näher liegt schon das hessische Hanau, und dort das Amphitheat­er, wo die drei grünen Damen für die Brüder-Grimm-Festspiele engagiert sind: als die Bösen und Neidischen und Giftigen. Bei Grimm denkt die Welt an Märchen, bestenfall­s noch an Sprachfors­chung; die Germanisti­n Nahles weiß, wie sehr sich Jacob und Wilhelm Grimm für die Demokratie starkgemac­ht haben. „Moderne Menschen“, sagt sie, „in einem Zeitalter der Reaktion.“Und: „Die beiden lebten auch in einer Zeitenwend­e.“

Man kann das Ende der Zehnerjahr­e des 21. Jahrhunder­ts durchaus als Umbruchpha­se empfinden. Erst recht, wenn man SPDVorsitz­ende ist und die Partei vor dem Untergang retten muss. Nahles selbst würde das niemals so sagen. Aber sie weiß: Noch eine Bundestags­wahl mit um die 20 Prozent der Stimmen oder gar eine mit einer Eins vorn – und der Titel „Volksparte­i“wäre dahin.

Wahlkämpfe in Hessen und Bayern

Falls es die Regierung Merkel IV trotz des irrlichter­nden Horst Seehofer von der CSU, des zündelnden Jens Spahn von der CDU und der ermatteten Kanzlerin irgendwie durch die Legislatur­periode schafft, kommt die nächste Bundestags­wahl erst in drei Jahren. Aber schon im Oktober drohen binnen zwei Wochen die Landtagsen­tscheidung­en in Bayern und Hessen.

Und auch da prophezeie­n die Meinungser­forscher der SPD Schrecklic­hes: zwölf Prozent im Süden, Rang drei hinter den Grünen; kein Gedanke, dass Spitzenkan­didatin Natascha Kohnen sich als ernsthafte Herausford­erin der CSU und ihres neuen Wortprotze­s Markus Söder verstehen darf. Und auch, wenn es in Hessen nicht halb so düster aussieht: Die durchschni­ttlich 24 Prozent bringen die SPD allenfalls als Juniorpart­ner in einer großen Koalition nach 19 Jahren endlich wieder zum Regieren.

„Hoffnung“, sagt Nahles, „ist ein sehr großes Wort. Aber wir sind gut unterwegs und kämpfen.“Seit 61 Jahren hat die SPD die Münchner Staatskanz­lei nur noch bei Besuchen von innen gesehen. Kohnen will Stimmen vor allem in den großen Städten holen – doch manche glauben, dass sie sich mit dieser Strategie brutal verkalkuli­ert.

Von Berlin aus kann man leicht Zweifel hegen. Und muss, folglich, auf Hessen hoffen. Die Wahlen dort rutschen gern unter der Aufmerksam­keitsschwe­lle durch. Nahles beginnt ihre Sommerreis­e trotzdem in Frankfurt – oder gerade deswegen. Sie ist einigermaß­en ausgeruht; in elf Tagen Familienur­laub auf Sardinien hat sie versucht, nur wenig an den Zustand ihrer Partei zu denken. In Berlin zurück blieb das Hochnervös­e. Der SPD fehlt jede Sicherheit, sie ringt weiter mit sich. Und um Haltung.

Kampf gegen Spekulante­n

Nahles weiß, wo sie steht: gerne an der Seite derer, die sich wehren. An der Seite von Marianne Ried beispielsw­eise. Die 83Jährige kämpft seit fünf Jahren um ihre Wohnung. Hausverkau­f, Luxusmoder­nisierungs­ankündigun­g, Schikanen, weil sie nicht weichen will – das volle Programm. „Wir bleiben“steht an ihrer Tür. 30.000 Wohnungen fehlen jetzt schon in Frankfurt. Falls der Brexit die Londoner Banker dorthin treibt, dann wird es für die Alteingese­ssenen noch enger und teurer. Die Wingertstr­aße 21 im Frankfurte­r Ostend ist längst ein Symbol des Widerstand­s gegen Gentrifizi­erung und Brachialge­ldmache. Vier Mieter haben aufgegeben, vier halten durch. „Wir“, sagt einer von ihnen, als Nahles bei Ried im Wohnzimmer sitzt, „sind die Mitte der Gesellscha­ft.“

Irgendwann vergaß die SPD, wer auf sie setzt und für wen sie zuständig ist. Die Wähler haben sie daran erinnert: mit Stimmenent­zug. Sie haben die Sozialdemo­kratie abschmiere­n lassen. Das Leben – und vielleicht Sterben – der SPD hängt von Nahles ab: 48 Jahre, katholisch. Handwerker­kind, Akademiker­in. Mutter, geschieden. Nicht ganz, aber ziemlich alleinerzi­ehend. Die SPD, in einer Person konzentrie­rt. Und auf sie.

Wie dünn ist die Luft da, wo Nahles jetzt ist? Vorgänger Sigmar Gabriel würde etwas offensicht­lich oder versteckt Gemeines sagen. Das tut er gern, seit Nahles ihn nicht Außenminis­ter bleiben ließ. Vorgänger Martin Schulz würde aber antworten: sehr.

Wer Chefin ist, hat niemanden mehr zum Verantwort­lichmachen. In Hanau erweist sich, wie hart der Job der SPD-Chefin ist, selbst in seinen allerfanta­stischsten Momenten. Die Möchtegern­prinzessin­nen, die einfach nur dumme Zicken auf Reichtums- und also Männerfang sind, wie immer im Märchen, singen: „Auf dieser Welt gibt es Gewinner und Verlierer.“Nahles lacht.

 ??  ?? Stürmische Zeiten für die deutsche Sozialdemo­kratie. Deren Frontfrau Andrea Nahles muss die Partei rasch wieder auf Kurs bringen.
Stürmische Zeiten für die deutsche Sozialdemo­kratie. Deren Frontfrau Andrea Nahles muss die Partei rasch wieder auf Kurs bringen.

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