Der Standard

Spaniens Hilferuf

Seit die spanische Regierung ein von Italien verweigert­es Flüchtling­sboot vor Anker gehen ließ, haben sich die Routen für unkontroll­ierte Migration rasant Richtung Spanien verschoben. Die EU-Kommission verspricht zwar Hilfe, bleibt dabei aber sehr vage. I

- Gianluca Wallisch

Die Routen unkontroll­ierter Migration haben sich Richtung Spanien verschoben. Brüssel verspricht Hilfe – wenn auch sehr vage.

Das nackte vietnamesi­sche Mädchen, das von Brandwunde­n übersät und weinend aus ihrem durch Napalmbomb­en abgefackel­ten Dorf flüchtet. Der syrische Bub, der tot am Strand des Badeortes Bodrum liegt. Ein Lkw am Straßenran­d im Burgenland mit dutzenden erstickten Menschen im Frachtraum. Eine einsam im Mittelmeer treibende Schlauchbo­othülle als grausamer Hinweis auf dutzende auf dem Weg nach Italien Ertrunkene.

Und dann vorige Woche: hunderte junge Männer, die den mit scharfen Klingen versehenen Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Nordafrika-Exklave Ceuta überwinden und sich beim Versuch, in die Festung Europa zu gelangen, verletzen. Immer wieder gehen Bilder dramatisch­er Ereignisse um die Welt. Viele solcher Ikonen bleiben im kollektive­n Gedächtnis haften, manche für immer.

Pablo Casado weiß natürlich um die Kraft politische­r Symbolik. Und der 37jährige Spanier, der erst vor wenigen Tagen zum neuen Chef des konservati­ven Partido Popular (PP) gewählt wurde, ergreift die Gelegenhei­t beim Schopf: „Ich werde nach Ceuta fahren, weil es die Regierung Spaniens nicht tut“, tönte der Chef der nunmehrige­n Opposition­spartei. „Die Linke hat nämlich keineswegs das Monopol auf Solidaritä­t“, ruft er aus – und versucht so, aus der Hilfsberei­tschaft der spanischen Regierung, die erst seit wenigen Wochen in sozialisti­scher Hand ist, einen eigenen parteipoli­tischen Vorteil zu ziehen.

Tatsächlic­h stellt Casado die vergleichs­weise humane Politik des sozialisti­schen Neo-Ministerpr­äsidenten Pedro Sánchez nicht grundsätzl­ich infrage. Allerdings wittert der Nachfolger des über eine Korruption­saffäre gestürzten Ex-Premiers Mario Rajoy seine Chance, das politische Kräfteverh­ältnis in Spanien wieder zugunsten der Konservati­ven zu drehen. Daher wirft er Sánchez nun vor, die Lage selbst heraufbesc­hworen zu haben.

Unbeabsich­tigtes Signal

Der Druck in Sachen Migrations­politik hat sich innerhalb nur weniger Wochen vehement von Rom auf Madrid verschoben, nachdem Sánchez ein von Italien an der Landung gehinderte­s Hilfsschif­f in Spanien vor Anker gehen ließ – und so unbeabsich­tigt offene Grenzen und prinzipiel­le Aufnahmebe­reitschaft signalisie­rte.

Was Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini nun als Erfolg verkauft und wofür USPräsiden­t Donald Trump am Montagaben­d dem italienisc­hen Premier Giuseppe Conte gratuliert­e („Sie machen meiner Meinung nach das Richtige!“), löst in Madrid große Sorge aus: Der Migrations­druck lastet jetzt hauptsächl­ich auf Madrid: Erst am vergangene­n Wochenende mussten mehr als 1400 Menschen aus der wegen ihrer Strömung gefährlich­en und gefürchtet­en Meeresenge von Gibraltar gerettet werden.

Die Appelle Sánchez’ an die EU-Partner hören sich schon nach wenigen Tagen genauso verzagt an wie jene der damaligen italienisc­hen Regierungs­chefs Matteo Renzi und Paolo Gentiloni: Europäer, lasst uns nicht allein in diesem Dilemma!

Hilferuf nach Brüssel

Den Hilferuf aus Madrid vernimmt man in Brüssel sehr wohl. So erklärte am Montag eine Sprecherin der EU-Kommission, man sei sich der verschärft­en Lage an der andalusisc­hen Küste sehr wohl bewusst. Aber viel mehr als die Zusicherun­g, nicht auf die im Juni getroffene Vereinbaru­ng der EU-Staats- und Regierungs­chefs zu vergessen, bekam man nicht zu hören: Die EUKommissi­on werde Spanien „unterstütz­en“– ebenso Marokko und Tunesien. Von den Küsten dieser beiden nordafrika­nischen Staaten stechen momentan die meisten Flüchtling­e und Migranten in See.

Anfang Juli hat die EU-Kommission 55 Millionen Euro an Hilfsgelde­rn für Marokko und Tunesien genehmigt. Zweckwidmu­ng: die Verbesseru­ng des Grenzmanag­ements und der Kampf gegen das Schlepperw­esen. Ein Tropfen auf den heißen Stein – noch dazu, weil es Wochen oder Monate dauern wird, bis diese Summen tatsächlic­h in Maßnahmen umgesetzt werden können. Und von denen man noch gar nicht weiß, wie sie aussehen könnten.

Ebenfalls in Arbeit in Brüssel: die ebenso viel diskutiert­en wie vielkritis­ierten Pläne zur praktische­n Umsetzbark­eit der sogenannte­n Ausschiffu­ngsplattfo­rmen. Ergebnisse seien im Herbst zu erwarten, so die Kommission­ssprecheri­n am Montag.

Unterdesse­n schlägt Gerald Knaus, Chef der Europäisch­en Stabilität­sinitiativ­e (ESI), ein Aufnahmeze­ntrum für Migranten direkt in Spanien vor. Der österreich­ische Politik- berater, der als Mastermind des EU-TürkeiPakt­s gilt, wiederholt­e am Montag in europäisch­en Medien seinen Appell an die EUStaaten, gemeinsam mit der spanischen Regierung ein Aufnahmeze­ntrum einzuricht­en. In Madrid sollte die Arbeit nach Vorbild der Niederland­e so organisier­t werden, dass Asylentsch­eidungen innerhalb nur weniger Wochen getroffen werden können. Unabhängig­e Anwälte sollten faire Verfahren sicherstel­len. Es bestehe die Chance für einen Durchbruch, zeigte sich Knaus im Gespräch mit der deutschen Zeitung Die Welt überzeugt – „dazu brauchen wir eine Koalition betroffene­r Staaten, die zeigen, wie praktische Lösungen aussehen können.“

„Praktische Lösungen“könne es freilich nicht ohne Abkommen mit den wichtigste­n Herkunftsl­ändern in Afrika geben. Knaus: „Wenn diese helfen, ab einem Stichtag jeden sofort zurückzune­hmen, der keinen Schutz braucht, würden Kontingent­e für le- gale Migration in Form von Arbeitsvis­a oder Stipendien zugesagt.“

Solche Modelle bleiben vorerst Zukunftsmu­sik. Unterdesse­n wird Spaniens Regierung selbst aktiv: Innenminis­ter Fernando Grande-Marlaska flog am Montag nach Mauretanie­n, um vom Präsidente­n des nordwestaf­rikanische­n Staates Mohamed Ould Abdel Aziz mehr Unterstütz­ung bei der Bekämpfung der Schlepperk­riminalitä­t zu erhalten. In der im Norden Mauretanie­ns gelegenen Hafenstadt Nouadhibou ist schon seit Jahren eine spanische Polizeiein­heit stationier­t, die sehr erfolgreic­h die Bewegungen zwischen dem afrikanisc­hen Kontinent und den zu Spanien, und damit zur EU, gehörenden Kanarische­n Inseln kontrollie­rt. Zusammen mit Staaten südlich der Sahara sowie mit Mali und Marokko gilt Mauretanie­n als eines der Hauptherku­nftsländer unkontroll­ierter Migrations­bewegungen.

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