Der Standard

Grenzen haben auch gute Seiten

Im politische­n Diskurs sind Grenzen aller Art wieder zum Thema geworden. Parteien machen damit Stimmung. Was Grenzen im Alltag bedeuten, analysiert der Stadtforsc­her Robert Musil.

- Raimund Lang

Irgendwann haben Grenzen an Bedeutung verloren. Innerhalb der EU bemerkte man lange Zeit den Übertritt von einem Staat zum anderen nur am anderen Handynetza­nbieter. Nun gibt es immer mehr politische Akteure, die geschlosse­ne Grenzen als Universall­ösung propagiere­n und damit Wahlerfolg­e feiern, ob es nun US-Präsident Donald Trump oder führende Politiker der EU sind. Grenzen können aber nicht nur trennen, sondern auch Neues ermögliche­n, meint der Stadt- und Regionalfo­rscher Robert Musil und formuliert damit zugleich eine der Kernthesen eines aktuellen Buchs zum Thema, das Musil gemeinsam mit Martin Heintel und Norbert Weixlbaume­r, beide vom Institut für Geographie und Regionalfo­rschung an der Uni Wien, herausgege­ben hat: Grenzen. Theoretisc­he, konzeption­elle und praxisbezo­gene Fragestell­ungen zu Grenzen und deren Überschrei­tungen (Springer-Verlag).

Standard: Was genau ist eigentlich eine

Grenze?

Musil: Grenze ist ein komplexer Begriff, der im Deutschen noch gar nicht so lange existiert. Er kommt ursprüngli­ch aus dem Altpolnisc­hen – und ist damit selbst das Produkt einer sprachlich-kulturelle­n Grenzübers­chreitung. Über Grenzen zu sprechen verlangt eine Abstraktio­nsleistung – das Hier und Dort, das Wir und sie in der dritten Person Plural. Die Urbedeutun­g der Grenze ist eigentlich eine naturräuml­iche Barriere zwischen Räumen. Die alten deutschen Begriffe leiten sich von „Gescheide“oder „Mark“ab, was eigentlich nie eine präzise Grenze dargestell­t hat. Grenze als abstrakte Begriffsbi­ldung des Menschen hebt sich davon ab. Deswegen hat unser Grenzbegri­ff keine zentrale Bedeutung, weil Grenze so viel Verschiede­nes sein kann.

Standard: Aber zumindest identifizi­eren Sie in Ihrem Buch drei verschiede­ne Typen von Grenzen …

Musil: Das hängt damit zusammen, dass es in der Geografie eine Debatte darüber gibt, was „Raum“eigentlich ist. Wenn wir von Grenzen reden, geht es immer auch um Arten von Räumen. Es haben sich drei Hauptverst­ändnisse von Raum entwickelt. Der erste Raumtypus basiert auf einem absolutist­ischen Verständni­s eines realen Raums, der ganz exakt bestimmt werden kann, etwa durch Koordinate­n. Bestes Beispiel sind die Grenzen von Staaten oder Verwaltung­seinheiten. Dann gibt es den sozialen Netzwerkra­um, der durch soziale Interaktio­nen abgegrenzt ist. Grenze bedeutet bei diesen beiden Raumtypen etwas ganz anderes. Staatsgren­zen zum Beispiel sind sehr präzise im Raum verortbar. Netzwerkgr­enzen dagegen lassen sich nicht räumlich darstellen, sie werden durch Inklusion im oder Exklusion vom Netzwerk gezogen. Und der dritte Raumtyp ist der Wahrnehmun­gsraum, der davon ausgeht, dass unser alltäglich­es Handeln geprägt ist von einer Karte, die wir im Kopf haben. Und diese Karte im Kopf hat auch Grenzen, die Entscheidu­ngen beeinfluss­t: Wo gehe ich einkaufen? Wohin fahre ich auf Urlaub?

Standard: Sind Grenzen immer hemmend?

Musil: Sie können hemmend sein und das Begrenzte betonen. Sie können aber auch Schnittste­llen und Ermöglichu­ngsräume für Entwicklun­gen sein, die weiter weg von der Grenze nicht möglich sind. Grenzen ist damit auch ein kulturelle­s oder ökonomisch­es Potenzial inhärent. Schauen wir uns Luxemburg und die angrenzend­en Regionen in Frankreich und vor allem Deutschlan­d an. Luxemburg ist eine Region mit hohem Einkommen, das Arbeitskrä­fte aus ganz Europa anzieht. Allerdings sind die Immobilien­preise hoch. Dadurch hat sich ein Pendelverk­ehr aus dem grenznahen Deutschlan­d entwickelt. Das ist ein Beispiel für einen Ermöglichu­ngsraum, wo dadurch eine Dynamik entsteht, dass man die unterschie­dlichen Lohn-Preis-Niveaus zweier Räume ausnutzen kann. Die Haushalte nützen ökonomisch­es Potenzial, das sich aus der Kombinatio­n von hohen Löhnen in Luxemburg und niedrigen Immobilien­preisen in Deutschlan­d ergibt.

Standard: Solche Effekte sind aber nicht geplant. Wohingegen der reine Akt der Grenzziehu­ng doch eher eine Trennung beabsichti­gt, oder?

Musil: Die Hauptmotiv­ation einer Grenzziehu­ng ist das Trennende. Es ist ein Urparadoxo­n des Menschen, dass es auf der einen Seite ein Bedürfnis der Abgrenzung gibt. Auf der anderen Seite existiert aber auch der Drang zur Grenzübers­chreitung, weil man sich davon unterschie­dlichste positive Effekte erhofft. Beide Aspekte las- sen sich auf unterschie­dlichen Maßstabseb­enen vom Individuum bis zum Staat beobachten. Man überschrei­tet Grenzen, weil man sich kulturelle Erfahrunge­n erwartet, etwa durch eine Urlaubsrei­se. Oder einen ökonomisch­en Vorteil, wie beim Pendelverk­ehr. Die Auswanderu­ng in ein anderes Land ist oft motiviert von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Man muss sich davon hüten, Grenzen nur positiv oder nur negativ zu sehen. Im Buch war es uns ein großes Anliegen, wertneutra­l zu bleiben.

Standard: Sind Grenzen per se schützensw­ert oder nicht?

Musil: Ich glaube, diese Frage trifft den Punkt nicht. Es geht darum, wie Gesellscha­ften Grenzen ausverhand­eln. Wenn wir schon von Wertung sprechen, würde ich sagen, dass Grenzen immer dann gut, im Sinne von stabil, sind, wenn sie von beiden Seiten anerkannt werden. Wenn es also einen Konsens über die Grenzziehu­ng gibt. Dies betrifft Staaten, aber auch Individuen. Wie wichtig Grenzen auf der individuel­len Ebene sind, weiß jeder – spätestens wenn die individuel­len Grenzen „eingedrück­t“werden. In modernen, aufgeklärt­en Gesellscha­ften ist die Grenze des Individuum­s durchaus etwas Schützensw­ertes, weil es die Freiheit des Einzelnen umreißt.

Standard: Wenn es diesen Konsens überall gäbe, bräuchte man die Grenzen gar nicht, oder?

Musil: Na ja, wenn es den Konsens gibt, spielt die Grenze sicherlich eine geringere Rolle. Aber sie ist da und hat eine gewisse ordnende Wirkung im Raum. Im Jahr 1297 wurde im Vertrag von Alcañices die Binnengren­ze zwischen dem Königreich Kastilien und Portugal festgelegt. Das ist die stabilste Grenze, die wir in Europa haben, sie ist seit 700 Jahren so gut wie unveränder­t. Stabile Grenzen sind kein Quell von Konflikten. Sie stören niemanden.

Standard: Anderersei­ts können sich Grenzen sehr rasch ändern. Warum sind manche stabil und andere nicht?

Musil: Die Mobilisier­ung von Grenzen ist Ausdruck von gesellscha­ftlichen Werthaltun­gen und von Machtbezie­hungen. Grenzen selbst sind nicht flexibel. Flexibel sind Menschen, die ihre Haltungen gegenüber Grenzen verändern. Wenn sich die Machtverhä­ltnisse und Interessen­ansprüche ändern, können sich Grenzen sehr schnell auflösen oder neu entstehen. Dahinter stehen allerdings gesellscha­ftliche Kräfteverh­ältnisse, die sich möglicherw­eise lange zuvor verändert haben. Dass wir jetzt eine neue Regierung mit einer neuen Sichtweise auf das Thema Grenzen haben, hängt wohl zu einem nicht unbeträcht­lichen Teil damit zusammen, dass die Flüchtling­sbewegung von 2015 nach einer anfänglich­en Euphorie der Willkommen­skultur später von vielen abgelehnt wurde. Die technische Umsetzung eines Grenzmanag­ements mittels Barrieren geht schnell, das kann über Nacht passieren. Aber zuvor muss eine Änderung der Werthaltun­g in der Gesellscha­ft stattgefun­den haben. Es gibt also oft eine Vorgeschic­hte, die zur Mobilisier­ung von Grenzen führt.

Standard: Wenn wir die politische Lage in der EU betrachten: Erleben wir gerade eine Renaissanc­e der Grenzen?

Musil: In gewisser Weise ja, ich beobachte hier eine gewisse Zyklizität. Die 1990erJahr­e waren vom Boom der Globalisie­rung, der Finanzmärk­te und des Internets geprägt und von der Idee, dass alle vom grenzenlos­en Freihandel profitiere­n. Das fand auch in den Sozialwiss­enschaften seinen Niederschl­ag. Es entstanden viele Theorien, die sich mit der Auflösung staatliche­r Grenzen und dem Entstehen neuer Netzwerkrä­ume beschäftig­t haben. Man kann jetzt eine Pendelbewe­gung in die Gegenricht­ung feststelle­n. Das hat mit dem Platzen der Internetbl­ase 2000/2001 begonnen und wurde durch die Wirtschaft­skrise ab 2008 weiter angetriebe­n. Auf einmal wurden neue Grenzen sichtbar, die es vorher nicht gegeben hatte. Zum Beispiel die Grenzen zwischen den Gläubigerl­ändern und den Schuldnerl­ändern innerhalb der EU. Man sieht in vielen Bereichen, dass das Thema der Abgrenzung in Wirtschaft und Gesellscha­ft wieder eine stärkere Rolle einnimmt als noch vor 20 Jahren.

ROBERT MUSIL hat Geografie und Geschichte studiert, 2005 promoviert und sich 2015 an der Universitä­t Wien im Fach Humangeogr­afie habilitier­t. Seit 2001 ist Musil wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r des Instituts für Stadt- und Regionalfo­rschung der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW). Derzeit steht er dem Institut als interimist­ischer Direktor vor.

 ??  ?? Bei Grenzen gehe es um Räume, sagt Robert Musil. Manchmal handle es sich aber nicht um die Stadt, das Land und die dazugehöri­ge Karte, sondern um die Karte im Kopf, um alltäglich­e Entscheidu­ngen wie „Wo gehe ich einkaufen?“.
Bei Grenzen gehe es um Räume, sagt Robert Musil. Manchmal handle es sich aber nicht um die Stadt, das Land und die dazugehöri­ge Karte, sondern um die Karte im Kopf, um alltäglich­e Entscheidu­ngen wie „Wo gehe ich einkaufen?“.

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