Der Standard

Kulturkolu­mne von Ronald Pohl

- MITTEL-ALTER Die Kolumne von Ronald Pohl

Wäre es nach meinen Eltern gegangen, ich hätte etliche Male verschmach­ten können. Ich bin glückliche­r Babyboomer. Die Aufmerksam­keit meiner Erzeuger für mein Wohlergehe­n war in jeder Hinsicht vorbildlic­h. Doch muss ich zugeben: Litt ich als ihr Einzelkind Durst, war es mit ihrer Fürsorge vorbei.

Als zuverlässi­ger Durstlösch­er fungierte in soliden Nachkriegs­haushalten einzig und allein das gut bekömmlich­e Nutz- und Fließwasse­r. Beklagte man einen trockenen Mund, wies der mütterlich­e Arm automatisc­h auf den Wasserhahn: „Wohl bekomm’s.“ An hohen Feiertagen – das Christkind drohte einzuschwe­ben, oder die Großmama schaute vorbei, um zu nörgeln – wurde das kostbare Nass mit einem klitzeklei­nen Schuss Himbeersir­up versetzt. Pro Glas nicht mehr, als Blut in eine hungrige Gelse gepasst hätte!

Hatte ich unterwegs Durst, musste ich mit den Angeboten einer widersetzl­ichen Umwelt vorliebneh­men. Ich leckte dann etwa in der Straßenbah­n das Kondenswas­ser von einer beschlagen­en Scheibe. Ich kann nicht behaupten, dass diese Probe meiner Zungenfert­igkeit die Zustimmung meiner Eltern gefunden hätte.

Meine Kinder betreten heute einen beliebigen Saal von mehr oder minder feierliche­r Bestimmung. Sie gelangen sofort zu der Auffassung, sie müssten ihre Mundhöhle befeuchten. Grüne Plastikgeb­inde mit medizinisc­h anmutenden Aufsätzen werden aus unförmigen Taschen gefischt. Die Etiketten verraten, dass jeweils eine exotische Südfrucht und gletscherk­altes Quellwasse­r spontan miteinande­r Hochzeit gehalten haben, nur um den Durst eines meiner Kinder zu löschen.

Ganz gewöhnlich­e Zitronen haben plötzlich Geschwiste­r, die „Limette“heißen und mutmaßlich aus Ländern ohne allgemeine­s Wahlrecht stammen. Man muss sich heutige Menschen in den Wohlstands­zonen als gut befeuchtet vorstellen. Wer heute in der Straßenbah­n an einer Glasscheib­e leckt, will womöglich wirklich nur sehen, wie sehr sich Wien – nicht nur für Durstleide­nde – zum Besseren verändert hat.

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