Charmeoffensive für den Brexit
Britischer Minister warnt vor ungeordneter Trennung
London/Wien – Der britische Außenminister Jeremy Hunt warnte am Mittwoch bei seinem Besuch in Wien vor einem Brexit ohne Abkommen, dem sogenannten No-Deal-Szenario. Es bestehe die reale Gefahr einer ungeordneten Scheidung, die seiner Ansicht nach ein „großer geostrategischer Fehler“wäre. Hunt sprach sich aber auch klar gegen eine Verlängerung der Verhandlungen über einen Austritt des Königreichs aus der EU aus. Der Nachfolger von Boris Johnson unter- stützt mit seiner Reise die diplomatische Charmeoffensive seiner Regierung in Sachen Brexit.
Auch die britische Premierministerin reist derzeit durch Europa. Am Freitag trifft sie Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der als härtester Gegner einer für die Briten maßgeschneiderten Austrittslösung gilt. Beim Salzburger EU-Gipfel im September möchte May bei den EUStaats- und -Regierungschefs für einen Kompromiss werben. (red)
Jeremy Hunt hat Stress. Keine zehn Minuten dauerte das Pressestatement des neuen britischen Außenministers am Mittwoch in Wien, und schon musste er weiter: Termine.
Der eigentliche Stresstest steht seiner Regierung freilich noch bevor: In weniger als neun Monaten wird Großbritannien aus der EU austreten – und bis dato fehlt es in puncto eines entsprechenden Abkommens noch bei wesentlichen Themen an Substanz. Die Zeit für eine Lösung, so Hunt und seine Gastgeberin Karin Kneissl unisono, sei „sehr kurz“.
Entsprechend wenig Optimismus versprühte der Konservative dann auch bei Fragen, ob es sich denn noch ausgehe mit einem pragmatischen „Deal“, den Premierministerin Theresa May vor drei Wochen auf dem Landsitz Chequers anvisiert hat: „Es gibt ein wirkliches Risiko einer schmutzigen Scheidung.“
Er, so Hunt, wolle alles dafür tun, dass Großbritannien nicht unabsichtlich in einen historischen Fehler schlittere. Das Ziel seines Landes seien freundschaftliche Beziehungen zu den Ländern der EU.
Den Abschied von der EU nach hinten zu verschieben, wie mancherorts in London spekuliert wird, ist für Hunt jedoch keine Option. Weder das britische Parlament noch die Bevölkerung würden eine Verzögerung akzeptieren. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ein Deal bis dahin noch möglich ist“, hielt der Minister die Erwartungen niedrig. Dass seine Regierung bloß Angst schüren wolle, verneinte Hunt erwartungsgemäß. „Es geht nicht um Angst, es geht um die Realität.“
Warnungen der Wirtschaft
Zumindest große Unsicherheit dominiert die Stimmung in der britischen Wirtschaft. In offenbar koordinierter Weise warnen britische Unternehmen und Wirtschaftsverbände vor einem ChaosBrexit und drängen die politischen Verhandlungspartner zu Kompromissen: So rasch wie möglich müssten London und Brüssel die geplante Übergangsphase bis Ende 2020 juristisch absichern, fordert Carolyn Fairbairn vom Industrieverband CBI. Andernfalls drohten weitere Abwanderung und Investitionsstopps. Von der britischen Regierung wünscht sich die Wirtschaft weiterhin privilegierte Beschäftigungsmöglichkeiten für EU-Bürger, von Brüssel sei „mehr Flexibilität“gefordert.
In Vorbereitung des EU-Gipfels in Salzburg im September trifft May am Freitag mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron zusammen. Beim Treffen an Macrons Urlaubsort Fort de Brégançon an der Côte d’Azur werde die britische Regierungschefin für einen zukünftigen engen Assoziationsstatus Großbritanniens mit der EU werben, heißt es in London.
Frankreich gilt in Mays Team als härtester Gegner einer maßgeschneiderten Lösung für das EUAustrittsland. Beim Salzburger Gipfel möchte die Britin über die Köpfe der Kommission hinweg bei den Staats- und Parteichefs für einen Brexit-Kompromiss werben.
Die Wirtschaftsvertreter scheinen Bedenken gegen das im Juli vorgestellte Weißbuch der Regierung zurückstellen zu wollen, um in den nächsten Wochen vor allem einen Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung zu verhindern. Dieser wäre katastrophal für beide Seiten, beteuert Mike Hawes von der Autolobby SMMT. Hawes’ Branche beschäftigt direkt und indirekt mehr als eine Million Menschen und exportiert über 80 Prozent ihrer Produkte – davon mehr als die Hälfte in die EU. Umgekehrt kaufen britische Autofahrer zwei Drittel ihrer Neuwagen vom Kontinent, weshalb auch die 27 EU-Partner an einer Lösung interessiert sein sollten.
Ins gleiche Horn stößt Fairbairn. Die Managerin wünscht sich ausdrücklich eine kreative Lösung, die auf das Brexit-Land zugeschnitten ist. Schließlich gehe es um die Verbindung zur siebtgrößten Industriemacht der Welt. „Da ist das Gerede vom Rosinenpicken nicht sonderlich hilfreich.“
Vergiftete Debatte
Der Zugang der wichtigen Finanzbranche zum EU-Markt sei noch verbesserungsbedürftig, finden Vertreter des Finanzzentrums City of London, die das Weißbuch als „echten Tiefschlag“kritisierten. Zwar habe die Regierung mittlerweile akzeptiert, dass sie beim Handel mit Gütern die EU-Regeln übernehmen muss, analysiert Fairbairn. Für Finanzdienstleistungen könne dies aber nicht gelten, zumal der Binnenmarkt für Dienstleistungen deutlich weniger entwickelt sei.
Vorhaltungen des STANDARD, wonach die Wirtschaftsverbände mit ihrer öffentlichen Lobbyarbeit reichlich spät dran seien, weist Fairbairn energisch zurück: „Wir haben uns schon im Referendumskampf lautstark zu Wort gemeldet. Aber es war und ist eine sehr komplexe und vergiftete Debatte.“