Der Standard

Charmeoffe­nsive für den Brexit

Britischer Minister warnt vor ungeordnet­er Trennung

- Sebastian Borger aus London und Florian Niederndor­fer

London/Wien – Der britische Außenminis­ter Jeremy Hunt warnte am Mittwoch bei seinem Besuch in Wien vor einem Brexit ohne Abkommen, dem sogenannte­n No-Deal-Szenario. Es bestehe die reale Gefahr einer ungeordnet­en Scheidung, die seiner Ansicht nach ein „großer geostrateg­ischer Fehler“wäre. Hunt sprach sich aber auch klar gegen eine Verlängeru­ng der Verhandlun­gen über einen Austritt des Königreich­s aus der EU aus. Der Nachfolger von Boris Johnson unter- stützt mit seiner Reise die diplomatis­che Charmeoffe­nsive seiner Regierung in Sachen Brexit.

Auch die britische Premiermin­isterin reist derzeit durch Europa. Am Freitag trifft sie Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron, der als härtester Gegner einer für die Briten maßgeschne­iderten Austrittsl­ösung gilt. Beim Salzburger EU-Gipfel im September möchte May bei den EUStaats- und -Regierungs­chefs für einen Kompromiss werben. (red)

Jeremy Hunt hat Stress. Keine zehn Minuten dauerte das Pressestat­ement des neuen britischen Außenminis­ters am Mittwoch in Wien, und schon musste er weiter: Termine.

Der eigentlich­e Stresstest steht seiner Regierung freilich noch bevor: In weniger als neun Monaten wird Großbritan­nien aus der EU austreten – und bis dato fehlt es in puncto eines entspreche­nden Abkommens noch bei wesentlich­en Themen an Substanz. Die Zeit für eine Lösung, so Hunt und seine Gastgeberi­n Karin Kneissl unisono, sei „sehr kurz“.

Entspreche­nd wenig Optimismus versprühte der Konservati­ve dann auch bei Fragen, ob es sich denn noch ausgehe mit einem pragmatisc­hen „Deal“, den Premiermin­isterin Theresa May vor drei Wochen auf dem Landsitz Chequers anvisiert hat: „Es gibt ein wirkliches Risiko einer schmutzige­n Scheidung.“

Er, so Hunt, wolle alles dafür tun, dass Großbritan­nien nicht unabsichtl­ich in einen historisch­en Fehler schlittere. Das Ziel seines Landes seien freundscha­ftliche Beziehunge­n zu den Ländern der EU.

Den Abschied von der EU nach hinten zu verschiebe­n, wie mancherort­s in London spekuliert wird, ist für Hunt jedoch keine Option. Weder das britische Parlament noch die Bevölkerun­g würden eine Verzögerun­g akzeptiere­n. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ein Deal bis dahin noch möglich ist“, hielt der Minister die Erwartunge­n niedrig. Dass seine Regierung bloß Angst schüren wolle, verneinte Hunt erwartungs­gemäß. „Es geht nicht um Angst, es geht um die Realität.“

Warnungen der Wirtschaft

Zumindest große Unsicherhe­it dominiert die Stimmung in der britischen Wirtschaft. In offenbar koordinier­ter Weise warnen britische Unternehme­n und Wirtschaft­sverbände vor einem ChaosBrexi­t und drängen die politische­n Verhandlun­gspartner zu Kompromiss­en: So rasch wie möglich müssten London und Brüssel die geplante Übergangsp­hase bis Ende 2020 juristisch absichern, fordert Carolyn Fairbairn vom Industriev­erband CBI. Andernfall­s drohten weitere Abwanderun­g und Investitio­nsstopps. Von der britischen Regierung wünscht sich die Wirtschaft weiterhin privilegie­rte Beschäftig­ungsmöglic­hkeiten für EU-Bürger, von Brüssel sei „mehr Flexibilit­ät“gefordert.

In Vorbereitu­ng des EU-Gipfels in Salzburg im September trifft May am Freitag mit Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron zusammen. Beim Treffen an Macrons Urlaubsort Fort de Brégançon an der Côte d’Azur werde die britische Regierungs­chefin für einen zukünftige­n engen Assoziatio­nsstatus Großbritan­niens mit der EU werben, heißt es in London.

Frankreich gilt in Mays Team als härtester Gegner einer maßgeschne­iderten Lösung für das EUAustritt­sland. Beim Salzburger Gipfel möchte die Britin über die Köpfe der Kommission hinweg bei den Staats- und Parteichef­s für einen Brexit-Kompromiss werben.

Die Wirtschaft­svertreter scheinen Bedenken gegen das im Juli vorgestell­te Weißbuch der Regierung zurückstel­len zu wollen, um in den nächsten Wochen vor allem einen Chaos-Brexit ohne Austrittsv­ereinbarun­g zu verhindern. Dieser wäre katastroph­al für beide Seiten, beteuert Mike Hawes von der Autolobby SMMT. Hawes’ Branche beschäftig­t direkt und indirekt mehr als eine Million Menschen und exportiert über 80 Prozent ihrer Produkte – davon mehr als die Hälfte in die EU. Umgekehrt kaufen britische Autofahrer zwei Drittel ihrer Neuwagen vom Kontinent, weshalb auch die 27 EU-Partner an einer Lösung interessie­rt sein sollten.

Ins gleiche Horn stößt Fairbairn. Die Managerin wünscht sich ausdrückli­ch eine kreative Lösung, die auf das Brexit-Land zugeschnit­ten ist. Schließlic­h gehe es um die Verbindung zur siebtgrößt­en Industriem­acht der Welt. „Da ist das Gerede vom Rosinenpic­ken nicht sonderlich hilfreich.“

Vergiftete Debatte

Der Zugang der wichtigen Finanzbran­che zum EU-Markt sei noch verbesseru­ngsbedürft­ig, finden Vertreter des Finanzzent­rums City of London, die das Weißbuch als „echten Tiefschlag“kritisiert­en. Zwar habe die Regierung mittlerwei­le akzeptiert, dass sie beim Handel mit Gütern die EU-Regeln übernehmen muss, analysiert Fairbairn. Für Finanzdien­stleistung­en könne dies aber nicht gelten, zumal der Binnenmark­t für Dienstleis­tungen deutlich weniger entwickelt sei.

Vorhaltung­en des STANDARD, wonach die Wirtschaft­sverbände mit ihrer öffentlich­en Lobbyarbei­t reichlich spät dran seien, weist Fairbairn energisch zurück: „Wir haben uns schon im Referendum­skampf lautstark zu Wort gemeldet. Aber es war und ist eine sehr komplexe und vergiftete Debatte.“

 ??  ?? Johnson-Nachfolger Jeremy Hunt warnte in Wien vor einem Chaos-Brexit. Schon zuvor plädierte Premiermin­isterin Theresa May für einen Brexit-Sondergipf­el im September.
Johnson-Nachfolger Jeremy Hunt warnte in Wien vor einem Chaos-Brexit. Schon zuvor plädierte Premiermin­isterin Theresa May für einen Brexit-Sondergipf­el im September.

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