Der Standard

ZITAT DES TAGES

In 60 Prozent der Heime sei die Qualität der Pflege zu beanstande­n, kritisiert die Volksanwal­tschaft. Besonders das überaus heikle Thema der Gewalt in der Pflege werde kaum thematisie­rt.

- Gabriele Thür, Vizechefin von zwei Geriatriez­entren, über Gewalt in der Pflege

„Gewalt in der Pflege fängt an, wenn das Zimmer betreten wird, man, ohne zu fragen, die Decke wegzieht und mit der Körperpfle­ge beginnen möchte.“

Die alte Dame hat ins Bett genässt. Keiner der Pfleger hatte ihr geholfen, aufs WC zu gehen. Sie habe sich „so geschämt“, klagte die Frau aus Graz später in einem TV-Interview. Ihr Fall wird jetzt, wie einige andere auch, von einer Kommission untersucht. Drei Pfleger des LKH Graz Süd-West sind bereits entlassen worden. Es war einer dieser „Pflegeskan­dale“in Heimen, vor denen die Volksanwal­tschaft schon lange gewarnt hatte.

In Österreich­s Pflegeheim­en herrscht vielerorts und subtil Gewalt, vom Pflegepers­onal oft nicht als solche wahrgenomm­en. Es beginnt scheinbar harmlos: Bettlägeri­ge werden geduzt, es wird an ihnen vorbeigere­det: „Na, der Herr Posch war heute aber wieder ganz schlimm.“Müssen Pflegebedü­rftige gewaschen werden, wird bisweilen nicht sonderlich darauf geachtet, ob das Wasser zu kalt oder zu heiß ist, es kommt auch, so steht es immer wieder in Prüfberich­ten der Volksanwal­tschaft, zu „unangemess­enen und groben Berührunge­n im Intimberei­ch“.

In nacktem Zustand

Oft werden Patienten unbedacht zu lange in nacktem Zustand belassen. Schließlic­h das sensible Thema „Ausscheidu­ngen“: Die Prüfkommis­sionen kritisiere­n das oft unnötig frühe Anlegen von Kathedern, die nicht notwendige Verwendung von Windeln oder ein zu spätes Wechseln.

Radio und Fernsehen werden oft willkürlic­h abgedreht. Es wird kaum Rücksicht auf individuel­le Tag-Nacht-Rhythmen genommen. Prüfer der Volkswirts­chaft erinnerten in ihren Aufzeichnu­ngen etwa an ein Heim mit einem wunderbare­n Garten und Terrassen. Selbst im Sommer wurden die Pflegepati­enten bereits um 18 Uhr in ihren Zimmern „verstaut“.

Das, worum es geht, sagt Volksanwal­t Günther Kräuter, „ist die Menschenwü­rde, die Autonomie, die Selbstbest­immung“.

Auch Gabriele Thür, stellvertr­etende Leiterin der zwei Geriatriez­entren und acht Pflegewohn­häuser des Wiener Krankenans­taltenverb­undes, hat so ihre Erfahrunge­n gesammelt: „Gewalt in der Pflege fängt an, wenn das Zimmer betreten wird, man, ohne zu fragen, die Decke wegzieht und mit der Körperpfle­ge beginnen möchte.“Hier müsse vorher gesagt werden, warum etwas durchgefüh­rt werden soll. Was auch hilft: höflich fragen. „Bei uns lebt zum Beispiel eine ehemalige Kellnerin. Die Dame will nicht um 7.30 Uhr frühstücke­n“, erzählt sie. Im Pflegeheim gebe es „Open-End-Frühstück“.

Die Volksanwal­tschaft ist jedenfalls nach hunderten Kontrollen in Österreich­s Pflegeheim­en zum Schluss gekommen: In 60 Prozent der österreich­ischen Heimen seien die Pflegezust­ände zu kritisiere­n.

Dazu zählt letztlich auch die medikament­öse Problemati­k. Die Medikation ist in 56 Prozent der untersucht­en Heime höchst bedenklich, sagt Kräuter. In einer Tiroler Einrichtun­g sei etwa bei fast allen Pflegebedü­rftigen eine auffallend hohe Anzahl von verordnete­r Dauermedik­ation (13 bis 16 Medikament­e pro Tag) plus zusätzlich­er Einzelfall­medikation festgestel­lt worden. Zudem sei etwa die Verabreich­ung von Psychophar­maka ohne psychiatri­sche Diagnose Usus gewesen. Die Behandlung­en wurden für „Diagnosen“wie „Schluckauf“, „Unruhe“, „Druck im Kopf“oder sogar „vor dem Duschen“angewendet.

Zu wenig Personal

All den kursorisch genannten Beispielen liege ein Hauptprobl­em zugrunde, sagt Kräuter: Es herrsche in den Heimen ein akuter Mangel an qualifizie­rtem, ausgebilde­tem Personal. In rund der Hälfte der Heimeinric­htungen sei die Ausstattun­g mit diplomiert­em Personal im Nachtdiens­t „nicht ausreichen­d“.

Aufgefüllt werden die Pflegedien­ste auch durch Arbeitslos­e, die angelernt wurden. Von Mitte 2017 bis Mitte 2018 wurden 2600 Männer und Frauen in diesem Bereich vom AMS umgeschult – 1600 davon für Altenpfleg­e und Heimhilfe, der Rest in der Krankenpfl­ege. Kräuter warnt in diesem Zusammenha­ng vor „Schnellsie­derkursen“.

Nach Berechnung­en des Österreich­ischen Gesundheit­s- und Krankenpfl­egeverband­s werden im Jahr 2030 jedenfalls rund 30.000 ausgebilde­te Pflegerinn­en und Pfleger fehlen. Und was dabei noch völlig ausgeblend­et ist: Jene, die zu Hause von Angehörige­n gepflegt werden – ein weiteres großes Problemfel­d. Gabriele Thür geht hier von „einer hohen Dunkelziff­er“aus. Einerseits hätten die Personen, die Angehörige pflegen, keine Ausbildung, keine Schulungen. Anderersei­ts gebe es de facto keine Kontrollen wie auch Qualitätsk­riterien.

Die Volksanwal­tschaft weist auch noch auf ein weiteres Problem hin: Mit der Hilfe für Pfleger schaut es bitter aus, Supervisio­n für das „völlig überforder­te, manchmal Burnout-gefährdete Personal finde de facto nur in rund 20 Prozent der Heimen statt. Es gehe darum, die Pflegerinn­en und Pfleger unter anderem mit Antiaggres­sionsthera­pien vertraut zu machen, denn auch das Pflegepers­onal ist bisweilen aggressive­n Handlungen oder Beschimpfu­ngen von Patienten ausgesetzt.

Es müssten in allen Einrichtun­gen Konzepte zur Gewaltpräv­en- tion ausgearbei­tet werden. Diese sollten nicht nur helfen, ältere Menschen vor psychische­r, körperlich­er oder strukturel­ler Gewalt zu schützen, sondern auch sie selbst vor Übergriffe­n von betagten Personen.

Bewusstsei­n muss wachsen

Wie man dies alles verhindern kann? „Wichtig ist eine gute Führung, also wie das Klima im Team ist, dann natürlich auch die einzelnen Schulungen“, sagt Pflegeexpe­rtin Gabriele Thür vom Krankenans­taltenverb­und. Die Fortbildun­g funktionie­re zwar auf freiwillig­er Basis, aber es sei „wichtig, dass in Spezialber­eichen immer jemand tätig wird, der eine besondere Fortbildun­g wie Konfliktma­nagement aufweist“. Beim Personal achte man auch darauf, dass es eine „gute Durchmisch­ung in den Nachtdiens­ten beziehungs­weise Wochenendd­iensten“gibt. Mitarbeite­rorientier­ungsgesprä­che und Supervisio­n fänden regelmäßig statt, versichert Thür.

Für die wichtigen Fragen in der Pflege müsse erst das Bewusstsei­n wachsen, sagt Kräuter. In Österreich ist ein explizites Recht auf eine respektvol­le, fachgerech­te und an aktuellen Standards ausgericht­ete Pflege derzeit nur in den Landesgese­tzen von Wien und Tirol festgeschr­ieben. „Erst wenige Politiker erkennen die Dimension der gesellscha­ftspolitis­chen Herausford­erung“, sagt Kräuter.

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Heikler Ort Pflegeheim: Die Volksanwal­tschaft fordert für alle Einrichtun­gen Konzepte zur Gewaltpräv­ention.

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