Der Standard

Erlaubt ist nur eines nicht ...

... und das ist, einfach nur zuzuschaue­n. Das Haus der Künstler in Gugging bietet Menschen mit besonderen psychiatri­schen Bedürfniss­en einen Raum, künstleris­ch tätig zu werden. Ein Besuch im Atelier.

- Roman Gerold

Kaum je ist Karl Vondal ohne ein Kunstwerk unterm Arm anzutreffe­n. Wo immer der Künstler hingeht, hat er das Bild dabei, an dem er gerade arbeitet. Zum Rauchen nimmt er es mit, zum Schlafen. Recht abgeschnud­elt sehen die Blätter mitunter aus, aber man will natürlich nicht darauf verzichten, im Inspiratio­nsfalle jederzeit daran weiterarbe­iten zu können. Oder sie herzeigen zu können, zum Beispiel einer schönen Dame. Man weiß ja nie, wann eine um die Ecke biegt.

Sieht so hingebungs­volle Liebe zur Kunst aus? Ist’s Angst, dass dem Werk etwas passiert? „Der Karli sieht seine Bilder als Erweiterun­g seines Körpers“, meint Vondals Betreuerin Ramona Schnekenbu­rger.

Vondal ist einer von 13 Künstlern, die derzeit im Gugginger Haus der Künstler leben. Diese psychosozi­ale Einrichtun­g des Landes Niederöste­rreich gibt Menschen mit besonderen Bedürfniss­en Raum, sich künstleris­ch auszudrück­en. Sie ist Teil des Art-Brut-Centers Gugging, zu dem außerdem die Galerie, das Museum und ein Atelier gehören.

„Art brut“(dt. „rohe Kunst“), diesen Begriff prägte der französi- sche Künstler Jean Dubuffet. Er bezeichnet­e damit Kunst, die unbeeinflu­sst von der Gesellscha­ft und unverbilde­t entsteht.

In Österreich begann der Psychiater Leo Navratil in der Nachkriegs­zeit, seine Patienten zeichnen zu lassen. Ihn interessie­rten die Zusammenhä­nge von Psychose und Begabung. Sein Buch Schizophre­nie und Kunst (1965) traf einen Nerv der Zeit. „Gesunde“Künstler wie Peter Pongratz oder Arnulf Rainer inspiriert­e die „Kunst der Geisteskra­nken“, sie sahen darin einen Zugang zu einer neuen Kunstsprac­he. Solche „Romantik“verhalf dem Gugginger Künstlerdr­eigestirn Johann Hauser, August Walla, Oswald Tschirtner zu Ruhm.

Kunst und Künstler im Fokus

Während Navratils Hauptaugen­merk der Erforschun­g des Pathologis­chen galt, wandte sich sein Nachfolger Johann Feilacher von diesem Fokus ab. 1986 benannte er das „Zentrum für Kunst und Psychother­apie“in „Haus der Künstler“um. Sich vom Krankheits­begriff distanzier­end, wollte Feilacher die „voyeuristi­schen Akzente rausnehmen“. Krankenges­chichten zusammen mit den Werken zu veröffentl­ichen – das ist für Feilacher tabu. Kunst und Künstlerpe­rsönlichke­iten stehen im Vordergrun­d.

Die Ateliers sind hell und hoch. Hier arbeiten die Künstler, sofern sie nicht im Freien oder in ihren Zimmern malen und zeichnen wollen. Ein Künstler vertieft sich in eine aus geschwunge­nen Formen bestehende Figur. Ein Kollege füllt seine Blätter mit kleinteili­gen Mustern. Karl Vondal arbeitet an einer pastellfar­benen Strandszen­e: Zwischen aufgeklebt­en Häuschenfo­rmen sonnen sich Pin-up-Girls, dazwischen kugeln rote Tupfer herum, die zwischen Herz und Äpfelchen changieren. Was die Künstler tun wollen, bleibt ihnen überlassen. „Die Förderung besteht im Nichtförde­rn“, sagt Feilacher.

Dem gezielten Laisser-faire steht die Anbindung an den Markt gegenüber. Die Galerie des Hauses unterhält mit allen Künstlern einen Vertrag, der Gewinn wird fifty-fifty aufgeteilt. Diese Option befördert das Selbstbewu­sstsein der Künstler. Feilacher geht es aber auch darum, die Grenzen zwischen Art brut und regulärer Kunst abzubauen. Er will Sammler erreichen, die Gugginger Kunst nicht exklusiv kaufen, sondern sie in ihre Kollektion­en integriere­n. Quasi auf Augenhöhe.

Zur Einebnung von Grenzen trägt auch bei, dass das Atelier für jedermann offen ist. Jeder kann sich für einen Platz in der Werkstatt anmelden, um dort zu arbeiten oder am Soziallebe­n teilzunehm­en. Erlaubt sei im Atelier alles, nur eines nicht: bloß zuschauen. Das irritiere.

Privatmyth­ologien

In der neuen Sammlungsp­räsentatio­n Gehirngefü­hl im Museum treffen die Gugginger „Klassiker“auf jüngst im Atelier entstanden­e Arbeiten. Man taucht ein in jene Privatmyth­ologie, mit der August Walla seinen Lebensraum überzog. Man bestaunt aber auch „Landkarten“von Leonard Fink. In opulent befüllten Blättern empfindet der 36-jährige Topografie­n nach. Einige Monate brauchte er für eine alternativ­e Kärntenkar­te: Autobahnen schlängeln sich nebst originelle­n Ornamenten über das Blatt, Kirchen stehen kopf. Über dem Großglockn­er ist noch Platz für den Himmel: Hier fliegt ein Hubschraub­er herum. Zu beobachten, wie zielsicher Fink bei einer kleinen Führung auf winzige Details in seinen Bildern zusteuert, lässt vermuten: Er hat jeden Augenblick dieses Bildes erlebt.

Dass man hier neue Wahrnehmun­gswelten kennenlern­t, macht den Reiz der Gugginger Kunst aus. Man sieht, welche tiefe, persönlich­e Bedeutung Kunst für einen Menschen haben kann. Jenes bare Bedürfnis nach Ausdruck, das die Kunst allgemein antreibt: Hier erlebt man es mitunter auch abseits von Begriffen wie Markt, Networking und Repräsenta­tion. Die Dauerausst­ellung „Gehirngefü­hl“ist bis 11. 4. 2021 im Museum Gugging zu sehen.

 ??  ?? 13 Künstler leben derzeit in Gugging: hier Porträts der Wiener Fotokünstl­erin Maria Ziegelböck von Juergen Tauscher, Franz Kernbeis und Laila Bachtiar (v. l.).
13 Künstler leben derzeit in Gugging: hier Porträts der Wiener Fotokünstl­erin Maria Ziegelböck von Juergen Tauscher, Franz Kernbeis und Laila Bachtiar (v. l.).
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