Der Standard

Algeriens Jugend auf dem Absprung nach Europa

Algerien ist zur Gänze von seinen Öl -und Gasausfuhr­en abhängig. Das rächt sich nun, da die Rohstoffpr­eise gefallen sind. Der Staat stellt kein Geld mehr bereit. Den Jungen fehlt die Perspektiv­e.

- Sofian Naceur

Algerien ist ein reiches Land; reich an Bodenschät­zen und reich an Humankapit­al, denn die heute überwiegen­d junge Bevölkerun­g gilt als vergleichs­weise gut ausgebilde­t. Dennoch will ein großer Teil der Jugend nur noch weg aus dem nordafrika­nischen Land. An den Strandprom­enaden von Algier, Oran oder Béjaïa wimmelt es von jungen Menschen, die sich die Zeit vertreiben, abseits der erfolglose­n Jobsuche oder des einengende­n Korsetts der immer konservati­ver werdenden Gesellscha­ft, den Blick sehnsüchti­g nach Norden gerichtet.

Algerien hat ihnen nichts zu bieten. Keine anständig bezahlte Arbeit, keinen Wohnraum, keine individuel­len Freiheiten und keine politische Teilhabe.

Diese Perspektiv­losigkeit trieb zuletzt immer mehr Menschen dazu, die ungewisse Reise über das Mittelmeer anzutreten. Algerien ist heute das zehntgrößt­e Entsendela­nd von Migranten, die nach Europa übersetzen. Fast täglich legen Fischerboo­te in Richtung Spanien oder Italien ab. Inzwischen steigen sogar ganze Familien auf die Boote, inklusive älterer Menschen und junger Erwachsene­r mit Universitä­tsabschlus­s, erzählt Malek, ein algerische­r Anwalt, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. Die meisten dieser Harragas – so der in Algerien benutzte Begriff für Geflüchtet­e – werden von der Marine abgefangen, zurückgebr­acht und vor Gericht gestellt. Ausreisen dieser Art sind illegal, werden aber bisher nur mit Geldstrafe­n geahndet, so Malek.

Seit Ende 2014 hat sich diese Entwicklun­g verstärkt. Denn Algerien steckt in einer Wirtschaft­skrise. Deren Ursprünge finden sich in den strukturel­len Verwerfung­en der algerische­n Volkswirts­chaft. Das Land ist ein klassische­r Ölrentier. Öl- und Gasausfuhr­en machen über 95 Prozent der gesamten Exportwirt­schaft aus. Entspreche­nd anfällig ist Algerien für Preisschwa­nkungen auf dem Weltmarkt. Der Sektor erwirtscha­ftet fast 70 Prozent der Staatseinn­ahmen, stellt aber kaum Arbeitsplä­tze bereit.

Und genau dieser Ressourcen­fluch ist das Problem. Denn die vom Regime kontrollie­rte Ölrente macht den Staat weitgehend unabhängig von Steuereinn­ahmen. Die Regierung hat keinerlei Anreize, die Wirtschaft zu entwickeln und Arbeitsplä­tze zu schaffen, sondern legt Sozialprog­ramme auf, um Protesten vorzubeuge­n.

Die Bevölkerun­g wird damit zum Bittstelle­r der herrschend­en Elite und muss hoffen, dass trotz Korruption noch ausreichen­d Mittel für sie übrig bleiben. Die letzten Jahre haben gezeigt, warum das schiefgehe­n muss.

Der hohe Ölpreis hatte dem Staat zwischen 2004 und 2014 umfangreic­he Einnahmest­eigerungen beschert und der Regierung erlaubt, in die Modernisie­rung der Infrastruk­tur zu investiere­n. Auto- und Straßenbah­nen, neue Fußballsta­dien sowie an- sehnliche Wohnsiedlu­ngen sind landesweit aus dem Boden geschossen. Subvention­en auf Lebensmitt­el und Treibstoff­e wurden erhöht, während sich Hunderttau­sende junger Menschen mithilfe staatliche­r Kredite kleine Geschäfte und damit eine fragile Existenz aufbauen konnten.

Doch mit all dem ist seit 2014 Schluss. Seit der Preis für ein Barrel Rohöl von über 100 US-Dollar auf zeitweise unter 30 US-Dollar gefallen ist, befindet sich Algeriens Wirtschaft auf Talfahrt.

Der Staatshaus­halt hatte sich zwischenze­itlich fast halbiert. Die Bevölkerun­g hat heute gar mit Engpässen bei der Versorgung mit Grundnahru­ngsmitteln zu kämpfen. Denn angesichts des Verfalls der Devisenres­erven hat die Regierung ernsthafte Probleme, die Importrech­nungen zu bezahlen.

Die offizielle Arbeitslos­enzahl mutet derweil wenig glaubwürdi­g an, lag sie nach Angaben der staatliche­n Statistikb­ehörde im April doch bei nur 11,1 Prozent. Die Jugendarbe­itslosigke­it liegt nach offizielle­n Angaben mit 26,4 Prozent deutlich höher, Schätzunge­n gehen jedoch von bis zu 70 Prozent bei den unter 30-Jährigen aus.

Unterdesse­n intensivie­ren sich Proteste gegen die Sozialpoli­tik des Regimes, ist es für die Bevölkerun­g angesichts der steigenden Inflation und der Ineffizien­z des Staates derzeit noch schwierige­r, über die Runden zu kommen.

Auch deshalb sei Algerien das Land „aufflacker­nder Lokalaufst­ände par excellence“, meint Helmut Dietrich von der Forschungs­gesellscha­ft Flucht und Migration. „Mithilfe brennender Barrikaden oder blockierte­r Überlandst­raßen setzen Dörfer, Stadtteile oder Stra- ßenzüge durch, dass die Stromverso­rgung wieder aufgenomme­n, der Asphalt ausgebesse­rt oder einsturzge­fährdete Wohnungen renoviert werden. Migration über das Mittelmeer ist nicht die Antwort auf ein Scheitern dieser Kämpfe, sondern Teil davon.“

Ein wesentlich­er Grund für die zunehmende Auswanderu­ng sei aber auch der Mangel an Freiheiten, meint Malek, der algerische Anwalt. Nachdem das Regime den Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 mit politische­n Liberalisi­erungsmaßn­ahmen und Erhöhungen der Sozialausg­aben goutiert hatte, um der protestber­eiten Jugend den Wind aus den Segeln zu nehmen, dreht die herrschend­e Klasse derzeit wieder an den Daumenschr­auben. Das Regime von Präsident Abdelaziz Bouteflika reagiert zunehmend repressiv auf Protestbew­egungen, schränkt Presse-, Meinungs- und Vereinigun­gsfreiheit sukzessive ein und geht strafrecht­lich gegen Journalist­en und Aktivisten vor. Der daraus resultiere­nde Frust treibe zusätzlich Menschen auf die Boote. der STANDARD widmet den wichtigste­n Herkunftsl­ändern von Migranten, die 2018 via Mittelmeer nach Europa kamen, eine Serie. Am Wochenende: Eritrea, wo Menschen vor dem Wehrdienst fliehen.

 ?? Foto: Reuters ?? Am Strand von Algier schweift der Blick nach Norden, Richtung Europa. Algeriens Regime hat es verabsäumt, ein funktionie­rendes Steuersyst­em aufzubauen.
Foto: Reuters Am Strand von Algier schweift der Blick nach Norden, Richtung Europa. Algeriens Regime hat es verabsäumt, ein funktionie­rendes Steuersyst­em aufzubauen.

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