Kuschelstunde mit Snapchat-Filter
Der britische Popstar Ed Sheeran bespielte an zwei Tagen hintereinander das ausverkaufte ErnstHappel-Stadion. Das ist vor ihm erst Robbie Williams und Helene Fischer gelungen. Warum er dort dennoch nicht hingehört.
Beim Heimgehen verfolgen einen die Fans fast bis ins eigene Haus. Sie sind selbst in den dunkelsten Gassen Wiens gut zu erkennen. Man hat ihnen Trinkbecher mit auf den Weg gegeben. Darauf zu sehen: ein 27jähriger Rotschopf, pausbäckig und unrasiert, der am Bügel seiner Hornbrille knabbert. Der britische Popstar Ed Sheeran hat soeben zwei ausverkaufte Stadionkonzerten in Wien absolviert. Das ist vor ihm nur Robbie Williams und Helene Fischer gelungen. Und es hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Warum?
Darum: Ed Sheeran – und das ist jetzt kein Vorwurf – macht Musik fürs große Formatradio. Dort gehört sie hin, sie will gar nicht ins Stadion. Es gibt eigentlich auch keinen Grund, dorthin zu gehen. Denn diese Musik lauert beim Billa direkt zwischen veganen Brotaufstrichen und picksüßen ÖlzGolatschen. Sie überfällt dich in der Baumarkt-Gartenabteilung, macht dir beim Zähneputzen oder im Taxi zu schaffen und kriecht dir höchstwahrscheinlich selbst dann noch ins Ohr, wenn du wegen politischer Unruhestiftung einem russischen Haftrichter vorgeführt wirst. Kurz: Sie ist überall. Als Zweitverwerter diverser Sheeran-Songs gibt einem darüber hinaus noch eine Vielzahl an Leuten wie Strandpartykönig Kygo oder der kanadische Eishockeyspieler Justin Bieber den Rest.
Dazu kommt, dass sich Ed Sheeran jeder vernünftigen Bühnenshow entzieht. Marketingexperten sprechen vom „Typ von nebenan“Effekt: Junger, schüchtern wirkender Mann mit Akustikgitarre stellt sich allein auf eine Bühne und singt über Liebe. Das ist nicht verkehrt. Aber ist es wirklich das, was wir in großen Fußballstadien sehen wollen? Nehmen wir an, es sei so: Selbst ausgewiesenen Fans des Sängers kam nach dem Wiener Konzert ein ernüchtertes „Na jo“über die Lippen. Was nicht unbedingt an der Bühne lag. Denn die machte durchaus etwas her.
Sie sah aus wie ein überdimensionierter Spielautomat, der das Verbot des kleinen Glücksspiels überlebt hat und über dessen pixelige Screens jetzt die neuesten iPhone-Games präsentiert werden. Es regnete digitale Rosenblätter, herzige Emojis und viele kleine Ed Sheerans, die meist zielgruppengerecht mit Fotofiltern, wie man sie von der bei Zehn- bis 20-Jährigen beliebten SnapchatApp kennt, in und außer Form gebracht wurden.
Die Schlangen vor den Damentoiletten waren das ganze Konzert über gut 100 Meter lang, und doch verblieb stets genügend Publikum am Ort des Geschehens, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit – also alle zwei Minuten – kollektiv die Handylämpchen zu schwenken. Der Veranstalter hatte all das bedacht und vorab per Aussendung empfohlen, man möge doch eine „Powerbank“(also einen Zusatzakku) fürs Handy mitnehmen, damit man „genug Strom für alle Fotos, Videos und Social-MediaAction“hat. Schöne neue Marketingwelt.
Zumindest Ed Sheeran ließ sein Handy in der Hosentasche. So ganz ohne Band, nur mit Gitarre und Loopmaschine, die er mit dem Fuß bedient, hätte er dafür auch gar keine Zeit gehabt. Und da sind wir beim Problem: Warum, fragt man sich, muss jemand, der seine Songs eigentlich mit einer Heerschar an Hitfabrikanten produziert, live als Einmannorchester auftreten?
Der Straßenmusiker-Schmäh zulasten akustischer Qualität mag die Mehrzahl der Fans vielleicht nicht jucken; jene „Boyfriends“und „Superdads“, über die Sheeran selbstironisch (Humor hat er!) meinte, sie seien gezwungen worden, hierherzukommen, interessieren sich bei 90 Euro plus pro Karte vielleicht dann doch ein bisschen dafür. Aber sei’s drum.
Zugabe im ÖFB-Teamdress
Neben neueren Versuchen im Rap (bitte aufhören!) und jüngsten Vergehen am irischen Volkslied (als Engländer!) spulte Ed, wie man ihn kennt, seine schönsten Hits und Oldies ab: Castle on the Hill, The A-Team, Dive, Bloodstream, Happier, der Hobbit-Titelsong I See Fire mit dem Nina-Simone-Cover Feeling Good als Intro. Schön gelang Sheeran sein Lieblingssong Tenerife Sea: Als hier beim fragil mehrstimmig gehauchten Gesangspart kurz Gekreische aufbrandete, bat er sogar um Ruhe. Bei der Kuschelnummer Thinking Out Loud schmolz hinten in der Grillbude noch die letzte Käsekrainer dahin.
Die Zugabe Shape of You – jeder kennt sie, auch wenn er nicht weiß, woher und warum – bestritt Sheeran schließlich überraschend im Teamdress der österreichischen Nationalmannschaft. Das sollte wohl ein paar „Boyfriends“und „Superdads“mit ihrem Schicksal versöhnen. „Nice try!“, sagt der Engländer.