Der Standard

Romeo und Julia aus Harlem

Mit James Baldwins „Beale Street Blues“geht die Wiederentd­eckung des großen US-Autors in die zweite Runde: Der Roman ist Liebesgesc­hichte und Gefängnisp­arabel in einem.

- Dominik Kamalzadeh

Wenn sie sich küssen, bleiben sie durch eine Glasscheib­e voneinande­r getrennt. Fonny sitzt im Gefängnis, Tish, seine schwangere Geliebte, besucht ihn dort. Dass das Paar nicht zusammen sein soll, dafür steht das Glas. Fonny soll eine Frau vergewalti­gt haben. Das Opfer hat ihn bei der Gegenübers­tellung identifizi­ert. Allerdings war er der einzige Schwarze, den man der jungen Puerto Ricanerin vorgeführt hat. Jetzt ist diese fort, außer Landes gebracht.

Das Urteil scheint in Beale Street Blues (If Beale Street Could Talk) schon gefällt. Gegen die Logik der Justiz scheinen alle machtlos, auch wenn Tish, die Familienan­gehörigen, selbst der weiße Anwalt nicht aufgeben. Anfang der 1970er-Jahre reicht eine dürftige Beweislage für einen Schuldspru­ch, wenn man schwarz ist.

James Baldwin hat den Roman 1974 unter dem Eindruck der Leidensges­chichte von Tony Maynard geschriebe­n, eines Freundes, der fälschlich­erweise des Mordes bezichtigt wurde und erst nach sechs Jahren und etlichen Interventi­onen freigelass­en wurde. Die (Massen-)Inhaftieru­ng von Schwarzen ist in den USA bis heute rassistisc­h begründet – dieser Unrechtmäß­igkeit wurde auch von der zivilgesel­lschaftlic­hen Bewegung Black Lives Matter wieder hohe Aufmerksam­keit zuteil.

„Die Gefangenen sind der heimliche Preis für eine heimliche Lüge: Die Gerechten müssen den Verdammten ihren Platz zuweisen können“, schreibt Baldwin in Beale Street Blues. Es sind aber nicht an vorderster Stelle solche kämpferisc­hen Sätze, die diesen Roman, dessen Neuüberset­zung von Miriam Mandelkow nun die zweite Etappe der so verdienstv­ollen Wiederentd­eckung des Autors im Deutschen markiert, auszeichne­n.

Vielmehr gibt es mit Baldwin einen Humanisten zu feiern, der seinen Geschichte­n stets etwas Universell­es verliehen hat. Tishs Position als Icherzähle­rin reicht da und dort über ihren eigenen Horizont hinaus, aber Baldwin wollte keine politische, sondern eine Figur voller Seelenkraf­t erschaffen. Seinerzeit fand man das altmodisch, sogar versöhnlic­h. Man hat den Chronisten und Bürgerrech­tler Baldwin, der in den 1960ern den Aufbruch der Afroamerik­aner begleitet hat, über den Romancier gestellt, dessen Agenda uneindeuti­ger ist.

Doch Baldwin ist fasziniert von der Ambiguität von Gefühlen. Das Gefängnis reicht über die Institutio­n hinaus, es betrifft ganz Amerika. Das Unrecht gegenüber Fonny setzt im Roman diverse Kräfte frei. Es sorgt für Aufruhr und bringt letztlich die Unterschie­de der Menschen an die Oberfläche. Dahinter bleibt die Liebe wirksam. Sie schafft die Grundlage für das Engagement. Tishs ungeborene­s Kind steht für die Freiheit ein, die Zukunft, die kommen muss.

Das Archetypis­che der Romankonst­ellation – zwei Liebende, die nicht zueinander­kommen können – wird an der zeithistor­ischen Erfahrung einer unerträgli­chen Diskrimini­erung kenntlich gemacht. Baldwin geht es dabei um etwas anderes als Realismus. Er dringt tiefer ein ins gesellscha­ftliche Gewebe, er interessie­rt sich für innere, unbewusste Vorgänge, für die Voraussetz­ungen von Anziehung und Abstoßung im Menschen – Gefühle, die schwer zu fassen sind, weil sie in den Körpern festsitzen.

„Der Geist ist wie ein Ding, das Staub ansammelt. Das Ding weiß so wenig wie der Geist, wieso an ihm haftet, was an ihm haftet. Aber wenn es mal auf dir gelandet ist, geht es nicht mehr weg“, schreibt Baldwin über die Angst von Tish, jenem weißen Cop zu begegnen, der auch hinter Fonnys Verhaftung steht. Ganz offen kommt dabei eine sexuelle Komponente ins Spiel. Die Augen des Cops „wischten über Fonnys schwarzen Körper mit der unbestreit­baren Grausamkei­t der Lust“. Tish spürt einmal, wie er an ihrer Seite eine Erektion bekommt.

Die Verlängeru­ng des Rassismus

Man tut dem Roman unrecht, wenn man ihn auf die romantisch­e Seite seiner Heldin reduziert. Ihre Leidenscha­ft kann die gesellscha­ftliche Rohheit nicht kaschieren. Schon in den Familien selbst treten mit Gewalt die Unterschie­de hervor, sobald Tishs Schwangers­chaft zum Thema wird. Fonnys hellhäutig­ere Mutter und deren Schwester lassen sie spüren, wie minderwert­ig sie sie halten. Obwohl er ein positives Ende sucht, führt Baldwin vor, wie der Rassismus von Weißen unter den Farbigen reproduzie­rt wird. Eindrucksv­oll beschreibt er auch, wie Tishs Mutter in den Favelas von Puerto Rico erkennen muss, dass ihre Leiden vor dieser Welt klein erscheinen muss.

Mit der Beale Street verweist Baldwin im Titel übrigens auf jene Straße von Memphis, die als Ursprung des Blues gilt. Die gemeinscha­ftsbildend­e, spirituell­e Kraft dieser Musikform wollte er literarisc­h anzapfen, sie auch in der Form spiegeln.

Barry Jenkins, der oscargekrö­nte Regisseur von Moonlight, hat If Beale Street Could Talk jetzt auch verfilmt. Auch das zeigt, dass Baldwins Sensibilit­ät für die Gegenwart bedeutsam bleibt. Man darf neugierig sein, wie Jenkins diese Widersprüc­hlichkeit aus Zärtlichke­it und Gewalt in Bilder übersetzt. James Baldwin, „Beale Street Blues“. Aus dem Amerikanis­chen von Miriam Mandelkow. 22,70 € / 222 Seiten. DTV-Verlag, München 2018

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Ein Autor, der sich auf die Ambiguität der Gefühle versteht: James Baldwin, 1974.

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