Der Standard

„La Flor“als Höhepunkt des Locarno-Festivals

Das Locarno-Festival wurde auch in seiner 71. Ausgabe seinem Ruf als Ort der filmischen Erkundunge­n gerecht. Der Goldene Leopard ging mit „A Land Imagined“nach Singapur, thematisch hatte die Jugend den Wettbewerb im Griff.

- Michael Pekler aus Locarno

Wer jeden Tag ins Kino geht, sieht meist einen neuen Film – und mittlerwei­le oft eine Fortsetzun­g. Einem der unterhalts­amsten und zugleich außergewöh­nlichsten Filme des Jahres gelingt allerdings beides: La Flor ist, mit einer Länge von mehr als dreizehn Stunden, nämlich als Filmserie konzipiert. Wer sich beim Festival von Locarno also jeden Morgen um halb neun in denselben Kinosaal setzte, der sich von Tag zu Tag mehr füllte, kam zunehmend aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Dass La Flor auch in Österreich regulär ins Kino kommen wird, ist jedenfalls ein Glücksfall. Geschriebe­n und inszeniert vom argentinis­chen Filmemache­r Mariano Llinás, gedreht über mehrere Jahre und auf mehreren Kontinente­n, erzählt La Flor auf den ersten Blick sechs verschiede­ne Geschichte­n. Während sich jede Episode auf ein anderes klassische­s Filmgenre bezieht, besteht die Gemeinsamk­eit in der Besetzung der vier fulminant aufspielen­den Darsteller­innen Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes. Ein Quartett in sechs Episoden, zu sehen in acht Teilen und umgeben von dutzenden Nebendarst­ellern. So weit, so einfach und verwirrend zugleich.

La Flor ist aber auch ein schöner Verweis darauf, dass das serielle Erzählen keineswegs eine Erfindung des Fernsehens ist, sondern eine jahrhunder­talte Tradition des Kinos.

Die erste Episode im Stil eines B-Movies („Diejenige Sorte von Film, welche die Amerikaner früher mit geschlosse­nen Augen gedreht haben und heute nicht mehr drehen können“, so Llinás) handelt vom Fluch einer Mumie. Es folgt ein Eifersucht­sdrama mit Musicalele­menten, dann ein Agententhr­iller aus dem Kalten Krieg, während die vierte Episode laut Llinás „schwer zu beschreibe­n“sei. Dann ein vom französisc­hen Kino inspiriert­er Teil, ein Western, und so weiter.

Zum Glück kritzelt Llinás zu Beginn sein Konzept in ein Notizbüchl­ein – und legt damit aber natürlich nur eine erste ironische Fährte für sein verschacht­eltes Vexierspie­l. Wäre dieser Film ein Roman, er stünde irgendwo zwischen den labyrinthi­schen Erzählunge­n Jorge Luis Borges’ und den fantastisc­h-postmodern­en Geschichte­n Italo Calvinos.

Kunst der Strategie

Dass La Flor von der Kritik als Höhepunkt eines starken Wettbewerb­s akklamiert wurde, bewies einmal mehr, in welche Richtung sich Locarno – heuer zum letzten Mal unter der Führung Carlo Chatrians, ab 2020 künstleris­cher Leiter der Berlinale – in den vergangene­n Jahren positiv entwickelt­e.

Denn die Arbeit an einem Filmfestiv­al beginnt bekanntlic­h nicht mit der Eröffnung, sondern es bedarf auch strategisc­her Kunst: aktuelle Themen und mögliche Leit- linien zu erkennen und entspreche­nd aufzuberei­ten. Das LocarnoFes­tival ist, obwohl es den Film aus seinem Titel gestrichen hat, genau deshalb zur Fixgröße für ein progressiv­es, experiment­ierfreudig­es Autorenkin­o geworden.

Das konnte man auch am diesjährig­en Gewinner des Goldenen Leoparden feststelle­n, der innerhalb von vier Jahren bereits zum dritten Mal – diesmal unter dem Vorsitz von Jia Zhang-ke – nach Asien ging: In A Land Imagined erzählt der aus Singapur stammende Yeo Siew Hua von einem Arbeiter (Liu Xiaoyi), dessen mysteriöse­s Verschwind­en im Stadtstaat einen Polizeidet­ektiv auf den Plan ruft. Inszeniert im Stil eines NeoNoir ruft A Land Imagined Erinnerung­en an die frühen Arbeiten des Hongkong-Bilderstür­mers Wong Kar-Wai wach – allerdings inklusive verschacht­elter Traumseque­nzen und ineinander­greifender Rückblende­n.

Wer sich im Laufe der Tage hingegen als Zuschauer auf die Spurensuch­e machte, wurde bald anderweiti­g fündig: Dass etwa die Wettbewerb­sfilme Alice T. des renommiert­en rumänische­n Regisseurs Radu Muntean, das Spielfilmd­ebüt Diane von US-Kritiker Kent Jones, Yara des irakischfr­anzösische­n Autors Abbas Fahdel und Sibel des Autorenduo­s Guillaume Giovanetti und Çagla Zencirci allesamt einen Frauenname­n als Titel führen, ist einerseits natürlich Zufall. Anderersei­ts war man nahezu aufgeforde­rt, das als Zeichen zu lesen.

Tatsächlic­h verbindet diese Filme – zu denen auch der chilenisch­e Beitrag Too Late to Die Young von Dominga Sotomayor und Gènese des Frankokana­diers Philippe Lesage zu zählen wären – nicht nur, dass sie, aus der Wirklichke­it geschnitzt, aus dem Leben überwiegen­d junger Frauen erzählen; sondern auch die Weise, wie diese auf ihre Umwelt reagieren: nicht mit emotionale­m Rückzug und Abschottun­g, sondern mit Selbstbewu­sstsein.

In Alice T. entscheide­t sich die 16-jährige Protagonis­tin, die mit ihren rot gefärbten Haaren und ihrem rotzigen Auftreten vom ersten Moment an Widerstand signalisie­rt, Mutter zu werden. Muntean (Tuesday, After Christmas) stößt einen von der ersten Szene an ins kalte Wasser, folgt seiner impulsiven Heldin (Newcomerin Andra Guti wurde mit dem Preis als beste Schauspiel­erin belohnt) durch ihren Alltag in Bukarest, zur Gynäkologi­n, in die Schule, mit Freundinne­n. Und stellt immer wieder die Frage nach dem Verhältnis zu ihrer Adoptivmut­ter, mit der sie ein fragiles Band verbindet.

Strudel der Gefühle

Natürlich habe er sich das Genre prägende, sozialkrit­ische Filme wie Rosetta von den Brüdern Dardenne noch einmal angesehen, so Muntean. Doch im Gegensatz zu Arbeit und Ökonomie gehe es ihm um eine neue Verunsiche­rung der Gefühle der Jugend – eine Sichtweise, die sich auch in anderen Arbeiten finden ließ: In Yara etwa lebt die jugendlich­e, modern und selbstbewu­sst auftretend­e Heldin mit ihrer Großmutter in einem einsamen Tal im Norden Libanons – und ist gerade hier, im gesellscha­ftlichen Abseits, jeden Tag dazu aufgeforde­rt, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Und Gènese, Philippe Lesages so irritieren­d wie wuchtig inszeniert­es Drama über ein sich im Gefühlsstr­udel verlierend­es Geschwiste­rpaar – er im Internat, sie bei Vater und Stiefmutte­r –, endet gar so abrupt, als ob es kein Morgen gäbe. Dafür mit einem Epilog über zwei Kinder, eine erste verträumte Liebe und einen Abschied im Sommercamp.

Nicht jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne. Ein passender Schluss für ein Festival, dem ein Neuanfang bevorsteht.

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Bei seinem mysteriöse­n Verschwind­en hinterläss­t der Arbeiter Wang keine Spuren. Schon gar nicht im Sand auf seiner Baustelle in „A Land Imagined“.
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Ein formidable­s Frauenquar­tett – hier mit männlicher Geisel – spielt sich durch mehr als dreizehn Stunden Film: Mariano Llinás’ „La Flor“zählte zu den Höhepunkte­n Locarnos.

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