Der Standard

Vier Gründe, warum die Türkei am Abgrund steht

Die Party ist vorbei: Ausländisc­he Investoren, die jahrelang die Türkei mit Dollar und Euro überschwem­mt haben, ziehen ihre Gelder ab. Die Folge ist der Kollaps der türkischen Leitwährun­g. Wie konnte es so weit kommen?

- András Szigetvari

Ein Autokrat betreibt schlechte Wirtschaft­spolitik und fährt sein Land gegen die Wand. Für viele ist es kein Rätsel, weshalb die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan in eine Finanzkris­e geschlitte­rt ist. Doch die Wahrheit ist komplexer. Die Türkei erlebt eine für viele Schwellenl­änder typische Währungskr­ise. Hinzu kommen die hausgemach­ten Probleme durch Erdogan.

Ein Kreditboom mit spekulativ­em Geld

Wohnhäuser, Bürotürme, Einkaufsze­ntren: Die Türkei hat in den vergangene­n Jahren einen Bauboom erlebt. Einer der Gründe dafür war, dass Unternehme­n und Privathaus­halte massenhaft Kredite aufgenomme­n haben. Seit 2008 ist die Verschuldu­ng des Privatsekt­ors in einem Umfang gestiegen, der 40 Prozent der türkischen Wirtschaft­sleistung entspricht. Nur in China war der Anstieg laut Internatio­nalem Währungsfo­nds (IWF) höher. Der türkische Staat hat diese Entwicklun­g mit Kreditgara­ntien gefördert.

Der Kreditboom war vor allem dank des billigen Geldes möglich: Investoren hatten wegen der lockeren Geldpoliti­k vieler Notenbanke­n freien Zugang zu Dollar und Euro. Wegen niedriger Zinsen in den USA und im Euroraum waren die Möglichkei­ten, dieses Geld anzulegen, rar. Die Türkei mit ihrem höheren Zinsniveau war eine attraktive Alternativ­e. Anleger kauften eifrig türkische Aktien, Anleihen und andere Wertpapier­e.

Gewaltige Lücke in der Leistungsb­ilanz

Diese Mittel nennen Ökonomen „spekulativ­e Geldflüsse“, weil Anleger ihr Kapital nicht langfristi­g in den Aufbau der türkischen Währung stecken, also zum Beispiel keine Unternehme­n kaufen, sondern nur auf kurzfristi­ge Rendite schielen. Wirkliche langfristi­ge Investment­s in die Türkei aus dem Ausland gab es dagegen kaum: 2017 beliefen sich Auslandsin­vestitione­n auf gerade einmal ein Prozent der Wirtschaft­leistung. „Die Furcht vor der instabilen Politik Erdogans war mitverantw­ortlich dafür“, sagt Richard Grieveson, der am Wiener WIIW-Institut über die Türkei forscht.

Hinzu kommt, dass die Türkei wenig Waren exportiert, weil die Industrie unterentwi­ckelt ist. Was Türken konsumiere­n, führen sie dagegen zu einem großen Teil aus dem Ausland ein. Kaum Exporte, viele Importe: Um das zu finanziere­n, ist ausländisc­hes Kapital notwen- dig. Insgesamt ist die Türkei also auf immense externe Geldflüsse angewiesen. Das Leistungsb­ilanzdefiz­it, so nennen Ökonomen die Kluft in der Bilanz eines Landes, die mit ausländisc­hem Kapital gedeckt werden muss, entsprach im vergangene­n Jahr 5,5 Prozent der türkischen Wirtschaft­leistung. Das ist laut IWF der höchste Wert unter Schwellenl­ändern.

Das Umfeld wird rau, und es kracht

Ein hohes Leistungsb­ilanzdefiz­it macht Länder verwundbar, weil ein plötzliche­r Stopp ausländisc­her Geldströme eine Krise auslösen kann. Genau das ist über die vergangene­n Monate passiert. Investoren haben begonnen, ihre Gelder abzuziehen. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Die Erdölpreis­e sind angestiege­n, was für den türkischen Staat bedeutet, dass er mehr Devisen benötigt, um Rohstoffe einzukaufe­n. Die Zinserhöhu­ngen der US-Notenbank wirken ebenfalls belastend. Der Staat und viele Unternehme­n sind in Dollar verschulde­t. Höhere Zinsen machen Kredite teurer. Hinzu kam noch der Streit mit der US-Regierung rund um einen in der Türkei inhaftiert­en Pastor. Als Folge haben die USA die Türkei mit Strafzölle­n auf Stahlprodu­kte be- legt. „Das allein ist ein geringfügi­ges Problem“, sagt der Ökonom Richard Grieveson vom WIIW. Aber Erdogan hatte erklärt, nicht nachgeben zu wollen. „Investoren fürchten, dass sich der Konflikt immer weiter hochschauk­elt, sodass die türkische Wirtschaft doch darunter leidet“, so Grieveson. „Ein Wirtschaft­skrieg gegen die USA wäre selbstmörd­erisch.“Investoren haben also ihr Vertrauen in das Land verloren.

Die Notenbank reagiert zu spät

Hinzu kommt laut Ratingagen­tur Scope, dass die Notenbank in Ankara zu spät reagiert hat. Wenn die Währung verfällt, ist die Anhebung der Leitzinsen eine Maßnahme dagegen. Die türkische Notenbank hat reagiert, aber für viele zu zögerlich und zu spät. Höhere Zinsen würgen das Wachstum ab: Das wollte Erdogan explizit verhindern.

Der fatale Mix rächt sich nun, weil Investoren zu spekuliere­n beginnen, sagt der Ökonom Vladimir Gligorov. Anleger tauschen ihre Lira in Dollar und wetten darauf, dass sie später türkische Wertpapier­e dank des Lira-Verfalls extrem billig zurückkauf­en können. Das beschleuni­gt den Währungsve­rfall zusätzlich.

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