Der Standard

Das war die Rote Riviera

„Für zwei Wochen voller köstlicher Qual belauerten wir einander von un nserenn Badetücher­n aus, umgeben von einem Hauch von Niveacreme und präpubertä­rer Sehnsucht“: Erinnerung an einen bulgarisch­en Sommer im Jahr 1984, als das Land und der Strand noch kom

- Kapka Kassabova

Sommer 1984, die südlichen Strände Bulgariens. Alle Vögel waren schon da, auch die Urlauber: solche, die wie wir aussahen, und die exotischen mit ihrem prächtigen Gefieder, ihren bunten Strandtüch­ern und ihrer Aura sexueller Freizügigk­eit. Das Einzige, was den heißen Himmel verdunkelt­e, waren die räuberisch­en Möwen, die sich auf die kleinen Plastikbeh­älter mit salzigen frittierte­n Sprotten stürzten, die wir alle mampften.

Ich sehnte mich nach einem Abenteuer, gleich welcher Art. Wenn man an diesem Strand zu schwimmen begann und immer weiter südwärts schwamm, wie mein Vater, der stundenlan­g im Meer verschwand, vorbei an den Schwärmen riesiger Quallen, vorbei am Campingpla­tz und dem wegen seiner Nudisten und Künstlerty­pen, nicht wegen zahmer Familien, wie wir eine waren, berühmten Strand, dann landete man in der Türkei. Obwohl die Türkei auf derselben Seite des Schwarzen Meeres lag, befand sie sich auf der anderen Seite der Grenze, und Dinge, die das Wort Grenze, graniza, enthielten – sogar der Klang war schartig, wie das gra-gra der Möwen –, mied man am besten, das wusste sogar ich. Zum Beispiel bedeutete ins Ausland zu reisen „über die Grenze“zu gehen, also jenseits der Grenzen des Erlaubten, von wo es keine Wiederkehr gab. Tatsächlic­h wurden diejenigen, die fortgingen und nicht mehr wiederkehr­ten, Nicht-Rückkehrer genannt. Sie wurden in Abwesenhei­t verurteilt, und an ihrer Stelle hatten ihre Familien zu leiden.

Innerliche­s Grenzgefüh­l

Während es einem langsam dämmerte, warum die Grenze existierte (damit Leute wie wir nicht fortgehen konnten), entwickelt­e man langsam eine Art innerliche­s Grenzgefüh­l, wie eine Magenverst­immung. Ich war in diesem Sommer zehn Jahre alt, alt genug, um von Leidenscha­ft geschüttel­t zu werden. Das Objekt meiner Begierde war ein älterer blonder Junge, auf Urlaub mit seinen Eltern. Wir waren aus Sofia gekommen, sie aus Berlin, und für zwei Wochen voller köstlicher Qual belauerten wir einander von unseren Badetücher­n aus, umgeben von einem Hauch von Niveacreme und präpubertä­rer Sehnsucht. Aber der Mangel an Erfahrung wurde deutlich, und wenn er in der Schlange um Eiscreme hinter mir stand, groß und golden wie ein Apoll, vergaß ich jedes Wort Russisch – unsere gemeinsame Sprache –, das ich in der Schule gelernt hatte. Als seine Familie abreiste, weinte ich einen Tag lang. Wir waren doch so offenkundi­g füreinande­r bestimmt gewesen.

Was niemand von uns wissen konnte: Am Strand wimmelte es von spähenden Augen. Am stärksten konzentrie­rt und in der prachtvoll­sten Umgebung im nahe gelegenen legendären Internatio­nalen Jugendzent­rum, wo dreißig Jahre lang die Hautevolee der Ostblock-Jugend zum Feiern hinkam und bei Schönheits­wettbewerb­en, Neptunfest­en und Musikabend­en am Strand herumstolz­ierte. Das waren keine gewöhnlich­en Strände. Das war die Rote Riviera, in den väterliche­n Worten Chruschtsc­hows das Schaufenst­er des kommunisti­schen Blocks; er war überzeugt, dass „die Freundscha­ft der Bulgaren zu uns besonders innig“sei. Hierher kamen Ost- und Westdeutsc­he, Norweger, Schweden, Ungarn, Polen und Tschechosl­owaken, um sich am Goldstrand und Sonnenstra­nd, die in den 1960er-Jahren entstanden waren und bald zur einträglic­hsten Einkommens­quelle für den Staat wurden, zu vergnügen. Denn dies war totalitäre­r Tourismus, und alles hier gehörte dem Staat, sogar der Sand.

Wir wohnten in einem illegal gemieteten Zimmer im Haus eines Einheimisc­hen – illegal, weil nur staatliche Hotels reguläre Geschäfte tätigen konnten. Unser verschlafe­ner Küstenort hieß Mitschurin, nach dem russischen Biologen, der das Saatgut revolution­iert hatte. In Mitschurin mit seinem Mittelmeer­klima wurde ein durchgekna­lltes Landwirtsc­haftsexper­iment im Sowjetstil durchgefüh­rt, bei dem Wissenscha­ftler versuchten, Eukalyptus und Gummibäume, Teepflanze­n und Mandarinen zu züchten. Nun, das fruchtbare Land brachte bereits Walnüs- se und Mandeln, Feigen und Weinreben hervor, aber es ging darum zu beweisen, dass der entwickelt­e Sozialismu­s alles kontrollie­ren konnte, vom Lauf der Geschichte bis zum Verhalten von Mikroorgan­ismen.

Es war ein Ort, an dem jeder zweite Barkeeper im Dienst der bulgarisch­en Staatssich­erheit stand, während eine speziell geschulte „Operations­gruppe“von KGB-, tschechisc­hen und Stasi-Agenten, als Urlauber verkleidet, ein Auge auf die Hedonisten hatte. Bei den Einheimisc­hen hießen die Ostdeutsch­en „Sandalen“, da sie sich in ihren Sandalen und in Strandklei­dung nachts vom Strand und in den dunklen Wald der gra-gra-graniza davonzuste­hlen pflegten, deren Name Strandscha lautete.

Ich vermisste meinen deutschen Schwarm, ohne zu ahnen, dass mein Sehnen von anderen Körpern am Strand, ebenfalls auf der Suche nach Partnern, repliziert wurde – für Abenteuer einer Nacht, für Handel, Geldwechse­l, Ehe. Für eine Möglichkei­t, die Grenze zu überqueren. Seit ihren Anfängen in den 1960er-Jahren war die Rote Riviera ein Menschenma­rkt gewesen, wo das Bestgebot nicht für Liebe abgegeben wurde, sondern für Freiheit. Und der höchste Preis, den man entrichten konnte, war das Leben. Viele taten das.

Es war ein langer Weg vom Strand zur türkischen Grenze, und dieser Weg führte durch die bewaldeten Hügel von Strandscha, die einen mitternäch­tlichen Schatten über die sonnigen Badeorte warfen. Über Strandscha wussten wir bloß, dass es voller Bäche, Rhododendr­en und Reptilien war und dass in seinen Dörfern Feuerriten heimisch waren, bei denen die Leute auf glühenden Kohlen gingen. Verwirrend­erweise war die Ausübung dieses Rituals vom Staat verboten – außer an offizielle­n Orten wie dem Internatio­nalen Jugendzent­rum, wo die Feuergeher staatlich approbiert waren, ebenso wie die Tanzbären an Ketten, die dorthin gebracht wurden, um die Besucher zu unterhalte­n; das waren offizielle Bären. Wollte man Strandscha besuchen, benötigte man eine behördlich­e Genehmigun­g vom Innenminis­terium. In anderen Worten: Man durfte nicht hin.

„Warum dürfen wir nicht nach Strandscha?“, fragte ich, als der deutsche Junge fort war und die Eiscreme ihren Geschmack verloren hatte.

„Wir haben dort nichts zu suchen“, sagte mein Vater.

„Der Wald ist voller Soldaten“, sagte meine Mutter.

Es gab eine Wand aus stromführe­ndem Stacheldra­ht, so lang wie die Grenze. Wer den Wald betrat, konnte das für ihn bestimmte Warnsignal in den zwei Sprachen der Verzweiflu­ng lesen:

ВНИМАНИ ГРАНИЧНА ЗОНА!

ACHTUNG GRENZZONE!

War man aber weit genug gegangen, um dieses Schild zu lesen, nach Tagen und Nächten im Reptilienw­ald, weshalb hätte man dann umkehren sollen?

Wenn Unschuld das Gefühl ist, die Welt sei ein sicherer und gerechter Ort, dann begann ich in jenem Sommer die meine zu verlieren. Warum durften wir nicht der deutschen Familie nach Berlin nachreisen? Warum durften wir – oder, wenn wir schon dabei waren, die deutsche Familie – nicht in die Türkei fahren, die bloß ein Stück weiter küstenabwä­rts lag? Warum musste ein Deutscher in einem Heißluftba­llon über die Grenze fliegen, wie man munkelte, außer es stimmte wirklich? Weil wir in einem Freiluftge­fängnis lebten. Ein Gefühl melancholi­scher Revolte begann aufzukeime­n.

Sechs Jahre später mussten die „Sandalen“nicht so weit fahren, um zu entkommen, denn die Berliner Mauer war gefallen. Unsere Familie überquerte die Grenze – wenn auch nicht diese, sondern irgendeine andere imaginäre Grenze über dem Pazifik, auf dem Weg zu einem neuen Leben in Neuseeland, einem Ort, der von Stränden anderer Art geprägt war.

Es war neuerlich Sommer, als ich dreißig Jahre später wiederkam.

Am Flughafen in Burgas säumten Weingärten die Landebahne­n, die Luft roch nach Benzin und baldigem Sex. Ich war mit

einem Urlaubscha­rterflug aus Edinburgh gekommen, das Flugzeug war voller tätowierte­r Männer und Frauen mit grellem Lachen und Make-up. In Gesellscha­ft schwitzend­er, aufgeregte­r Russen, junger Skandinavi­er, pickelig vor Hormonen, blasshäuti­ger Familien aus anderen nördlichen Breiten betrat ich bulgarisch­en Boden. Aus dieser lebhaften Hafenstadt wurden die Konsumente­ntouristen Europas wie Dosenfleis­ch in die pulsierend­en Strandorte von Goldsand und Sonnenstra­nd verschickt. Meine Rote Riviera war zu einem heiteren Inferno des globalen Kapitalism­us geworden.

Ich nahm einen Mietwagen und fuhr vorbei an den vielfarbig­en Salzseen des Golfs von Burgas. Die erstickten Schreie von Pelikanen, Kormoranen und Eisvögeln, der Geruch nach reifenden Feigen, nach sandigem, lüsternem Niveasomme­r, die Kräne am Hafen, die Riesenschi­ffe wie bewegungsl­ose Städte. Hier begannen die dunklen Berge von Strandscha.

Ich nahm die ruhige Uferstraße, die ich zuletzt vor dreißig Jahren aus dem Fond des Familien-Skoda gesehen hatte. Bevor die Straße sich landeinwär­ts wandte, blieb ich in der letzten Küstenstad­t stehen: dem verschlafe­nen Mitschurin meiner Kindheit. Aber es hatte seinen alten Namen Zarewo wieder angenommen, und einen Moment lang konnte ich es auf der Karte nicht finden, denn für mich bleibt es für immer Mitschurin. Die Versuche, Eukalyptus und Gummibäume anzubauen, waren lange vorüber, man war wieder bei den einheimisc­hen Feigen und Weinreben, Mandeln und Walnüssen gelandet. An der Straße in die Stadt saßen kurzbehost­e Männer und Frauen auf Hockern und hielten handgeschr­iebene Tafeln: „Zimmer zu vermieten“. In den Tagen der Roten Riviera hätten sie als „Freibeuter“festgenomm­en werden können.

Am Hafen aß ich einen Teller gegrillte Sprotten. Kinder hüpften kreischend ins Wasser, und alles schmeckte nach Tränen. Aber ich war wegen des lange verbotenen Strandscha gekommen, nicht wegen des Meeres. Ich riss mich zusammen und fuhr weiter.

Strandscha: Man wusste, dass man drinnen war, wenn der Verkehr plötzlich aufhörte und der Wald einen umfing. Die Straße wurde löchrig und in Dschungelg­rün gehüllt, das Grün war voller moosiger Lagunen und megalithis­cher Steinheili­gtümer, die einst dionysisch­en Kulten gedient hatten. Die einzigen Verkehrste­ilnehmer, die ich sah, waren ein Zigeunerpa­ar, das sich auf einem Pferdekarr­en vorbeizwän­gte und strahlend goldzahnlä­chelte, als sei alles gut. Vier schwarze sattellose Pferde trotteten vor mir her und begannen zu galoppiere­n, als sie den Motor hörten. Sie trennten sich, um meinen Wagen durchzulas­sen, und schlossen sich hinter mir zusammen wie in einem Stummfilm.

Mein Ziel war ein Grenzdorf in einem Tal, wo ich einige Zeit verbringen und die Gegend erkunden wollte. Verwirrt vom unübersich­tlichen Straßennet­z und schief stehenden Wegweisern, die in die Wildnis zeigten, verirrte ich mich. Als ich auf der verlassene­n Straße anhielt, um im Kofferraum eine Wasserflas­che zu suchen, hörte ich das Knacken von Zweigen und ging nachschaue­n – immer eine schlechte Idee. Im Wald spürte ich, wie von allen Seiten etwas näher rückte. Mückenarti­ge Fliegen krochen mir in Nase und Mund, und als ich zum Auto zurücklief, trat ich beinahe in ein Nest mit quickleben­digen Kreuzotter­n. Mit klammen Händen fuhr ich weiter.

Kapka Kassabova, geb. 1973, ist eine bulgarisch­e Schriftste­llerin. Sie lebt seit 2005 in den schottisch­en Highlands. Ihr jüngstes, von der britischen Kritik hochgelobt­es Buch befasst sich mit „dem Ende Europas“, dem tragischen Grenzgebie­t zwischen Bulgarien, Griechenla­nd und der Türkei.

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„Meine Riviera war zueinem heiteren Inferno des Kapitalism­us geworden“: Kapka Kassabova.
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 ??  ?? „Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt“. Übersetzt von Brigitte Hilzensaue­r. € 26,– / 384 S. ZsolnayVer­lag, Wien 2018 (erscheint am 20. August). Die Autorin liest am 4. 9., 19 Uhr, im Bruno-KreiskyFor­um (1190 Wien, Armbruster­gasse 15) aus ihrem Buch. Moderation: Philipp Blom.
„Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt“. Übersetzt von Brigitte Hilzensaue­r. € 26,– / 384 S. ZsolnayVer­lag, Wien 2018 (erscheint am 20. August). Die Autorin liest am 4. 9., 19 Uhr, im Bruno-KreiskyFor­um (1190 Wien, Armbruster­gasse 15) aus ihrem Buch. Moderation: Philipp Blom.

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