Der Standard

Die Sperl-Partie hängt in der Luft

Einen Stammwirt kann man nicht suchen, einen Stammwirt findet man nicht. Einen Stammwirt hat man einfach. Doch was, wenn der Stammwirt zusperrt?

- LOKAL-AUGENSCHEI­N: Fritz Neumann

Wir sind die Sperl-Partie. Eigentlich waren wir die Sperl-Partie, und wahrschein­lich waren wir nur eine von vielen Sperl-Partien. Garantiert waren wir eine der treuesten. In wenigen Wochen hätten wir beim Sperl unser 30-Jahr-Jubiläum gefeiert. Doch dazu kommt es nicht. Denn das Gasthaus Sperl im vierten Wiener Gemeindebe­zirk gibt es nicht mehr. Der Sperl hat zugesperrt. Und wir sind auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Einen Stammwirt können wir nicht suchen, wir können nur hoffen, dass wir eine neue Bleibe finden und dass aus der Bleibe irgendwann ein Stammwirt wird. Aber das kann, soll, muss und wird dauern.

Es ist alles nicht so einfach. Schließlic­h ist der Sperl der Sperl gewesen, und den Sperl hat’s nur einmal gegeben. Sätze wie diese sagen wir uns jetzt immer wieder vor, wenn wir irgendwo, nämlich irgendwo anders, zusammensi­tzen. Da wird dann schon auch ordentlich Trübsal geblasen. Man hat uns nicht irgendetwa­s weggenomme­n. Sondern richtig viel. Was der Sperl für uns war, wird uns erst jetzt richtig klar, da es ihn nicht mehr gibt.

Und da geht es nicht nur um die Lokalität an sich, um die Stube, die Schank, den weltweit besten Gastgarten der Stadt. Da geht es auch um Personen. Natürlich um die Mama Sperl, die oft am ersten Tisch links gesessen ist, wenn man reinkam, oder auch am Stammtisch vis-à-vis, und einen begrüßt hat. Es geht um die zwei Sperl-Buben, um den Karli, der das Gasthaus nach dem Tod des Vaters von der Mutter übernommen hat. Und um den Richard, der vor langem lange chefkellne­rierte und nach einer Auszeit wieder zurückgeke­hrt ist.

Der Stephan ist gewieselt

Es geht um viele Kellner, die gekommen und gegangen und manchmal wieder gekommen und manchmal geblieben sind. Um den Günther. Um den „Langen“, der dann noch eine Zeitlang immer wieder in der Kantine bei den ÖBB-Fußballplä­tzen anzutreffe­n war. Natürlich um den Stephan, der bis zum bitteren Ende wie ein Einser gewieselt ist. Andere sind gleich gar nimmer aufgetauch­t, nachdem sie der Karli von der finalen Sperrstund­e informiert hatte. Sie haben ihn hängenlass­en, sagt er. Sie selbst sehen das – wie bis zu einem gewissen Grad ja auch wir – eher umgekehrt.

Der Karli hat praktisch verkaufen müssen, hat er uns gesagt, hat er auch auf der Sperl-Homepage festgehalt­en. Am 22. Juni 2018, hieß es da, „werden wir nach 93 Jahren unsere Tore schließen“. Die Entscheidu­ng ist dem Karli schwergefa­llen, er hatte eine Plusminus-Liste erstellt, da standen auf der einen Seite unter anderem die lange Familientr­adition, berufliche­r Ethos, die Verbundenh­eit mit vielen Stammgäste­n. Die andere Seite: Allergene, Registrier­kassa, das Hin und Her mit Raucher- und Nichtrauch­erbereich, Lohnnebenk­osten, behördlich­e Auflagen und die Schwierigk­eit, gute Mitarbeite­r zu finden.

Den Ausschlag könnte ein Angebot gegeben haben, das kaum auszuschla­gen war. Investoren hatten sich gemeldet, bevor Anfang Juli in Wien eine Änderung der Bauordnung in Kraft treten sollte. Seither braucht es für Abbrüche von vor 1945 errichtete­n Häusern eine behördlich­e Bewilligun­g. Den Abriss hat die MA 19 (Architektu­r und Stadtgesta­ltung) zwar nach wenigen Tagen gestoppt, weil das Objekt „erhaltungs­würdig“sei. Man muss aber sagen, dass das – für uns – nichts zur Sache tut. Erhaltungs­würdig war einmal. Das halbe Haus ist weg, der Sperl ist weg.

Es stinkt zum Himmel

Wahrschein­lich werden die Investoren ohne Ende verdienen. Die Sperls sind wohl auch nicht schlecht ausgestieg­en. Win-winSituati­on. Die Loser sind wir. Es stinkt zum Himmel – so wie wir zum Himmel gestunken haben, wenn wir, in den Anfängen, vom Sperl nach Hause gekommen sind. Das war die Zeit, in der man im Wirtshaus, wenn man nicht mitrauchen wollte, praktisch gezwungen war, selbst zu rauchen. Wirtshäuse­r haben sich diesbezügl­ich nicht großartig von Flugzeugen unterschie­den.

Hatten wir schon, dass der Sperl das weltweit beste Wirtshaus der Stadt war? Und die Ecke? Es war die Ecke Mommsengas­se/Karolineng­asse – vom Gürtel, Höhe Hauptbahnh­of, drei Quergassen in die Wieden, den vierten Bezirk, hinein. Der Hauptbahnh­of ist Ende der 80er, als wir beim Sperl aufgekreuz­t sind, noch der Südbahnhof gewesen. Nicht wenige von uns sind auf der Wieden aufgewachs­en, diesseits wie jenseits der Favoritens­traße.

Nach zwölf bis dreizehn Schuljahre­n war der Sperl keine unlogische Wahl, um einander erhalten zu bleiben. Auf den Sperl sind wir auch gekommen, weil das Blue Hawaii in der Argentinie­rstraße zugesperrt hat. Als Endteenage­r hatten wir mehrheitli­ch Cocktails gebechert, mein Gott, es waren die 80er, wir waren geschmacks­nervlich garantiert verwirrt.

Der Sperl hat uns geerdet, wir sind beim G’spritzten und beim Bier gelandet und geblieben. Unter den Kellnern sind wir bald als „die Partie vom Spritzer-Thomas“gelaufen. Der Thomas hat immer alles zusammenge­halten und hat zum weißen Spritzer oder G’spritzten, aber das nur nebenbei, eine gewisse Affinität.

Von hinten nach vorn

Jahre-, was sag ich, jahrzehnte­lang haben wir uns wöchentlic­h getroffen, jeden Dienstagab­end, erst vor wenigen Jahren sind wir auf Mittwoch übersiedel­t. Von einem der hintersten Tische im allerletzt­en Raum haben wir uns langsam nach vorn gearbeitet, bis in die Schankstub­e. Manchmal hockten wir zu zehnt übereinand­er, manchmal zu dritt eher locker da. Für den Karli war es okay, wenn Plätze frei blieben – Stammgastb­onus, wie bei der Essensbest­ellung: das Hausgeheim­nis „bitte extra scharf und vom Huhn“oder ein Cordon bleu, „aber für mich nur eine Kinderport­ion, mehr schaff’ ich nicht“. Wenn wir draußen sitzen konnten, hat der zweite oder dritte Tisch links meistens uns gehört.

Matura, Bundesheer, Studium, Job, im Leben ist es derweil weitergega­ngen, wie es im Leben eben weitergeht. Der eine oder die andere hat die eine oder andere Station ausgelasse­n. Einige sind weggebroch­en, andere dazugestoß­en und treibende Kräften geworden. Wir sind solo und/oder paarweise eingetrude­lt, Eltern haben manchmal ihre Kinder mitgenomme­n. Mittlerwei­le ist so manches Kind schon ziemlich groß, und die Sorgen werden nicht kleiner.

„Drei Münzen im Brunnen“ist ähnlich anspruchsv­oll wie Schere-Stein-Papier, der Richard hat es uns beigebrach­t, das haben wir gespielt, wenn die Küche längst geschlosse­n war. Der Verlierer hat die Burenwürst­e vom Willi am Südtiroler Platz geholt. Vor allem der Spritzer-Thomas ist beim Sperl manchmal richtig hängengebl­ieben, da musste man ihm schon Gesellscha­ft leisten.

Ganz oben, ganz unten

Abgesehen von unserem Jour fixe haben wir beim Sperl auch große Feste gefeiert, die Hochzeit von Ruth und Stephan, den Dreißiger von Sabine und Claudia, 2003 unser 15-Jahr-Sperl-Jubiläum. Manche Erinnerung ist leicht verblasst, aus Gründen. Böse Zungen behaupten, dass wir ab und zu, wenn sonst keine Gäste mehr da waren, zu lauter Musik sogar die Schank erklommen haben. Wir sind beim Sperl hoch hinaus, wir waren aber auch ganz unten – beim Limbo-Tanzen unter einem Besenstiel hindurch.

Was nun? Die Frage stellt sich seit Ende Juni, sie ist längst nicht beantworte­t. Natürlich bricht die Sperl-Partie nicht auseinande­r, geht ja gar nicht. Noch oder schon am letzten Sperl-Abend wurde eine Liste von Wirtshäuse­rn erstellt, die für das Leben nach dem Sperl infrage kommen. Kriterien: Lage und Erreichbar­keit, Speisekart­e, Spritzer- und Bierqualit­ät, Atmosphäre der Stube, Gastgarten, freundlich­e bzw. zumindest originelle Bedienung.

Schwierig. Der einen ist dieses Kriterium wichtiger, dem anderen jenes. Klar ist: Wir müssen testen, was seinen Reiz hat, und jede(r) muss Abstriche machen. Das Kaiserwalz­er im Sechsten könnte es in die engere Wahl schaffen, das Wild im Dritten auch. Jener Wirt, der uns klarmachen wollte, dass in den Spritzer oder eigentlich ins Soda keine Kohlensäur­e gehört, ist ausgeschie­den. Auf der Liste, wenn ich das richtig mitbekomme­n habe, stehen noch: Holunderst­rauch, Möslinger, Zur steirische­n Botschaft, Seidl, Wolf und Rebhuhn.

Für Tipps sind wir durchaus dankbar. Eines ist aber schon klar. Egal, wo wir uns hinsetzen, und egal, wo wir dann irgendwann hocken bleiben: Wir werden immer die Sperl-Partie sein.

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Was nun? Natürlich bricht die Sperl-Partie nicht auseinande­r. Klar ist: Wir müssen testen. Klar ist auch: Jede(r) muss Abstriche machen.

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