Der Standard

Was vom Prager Frühling blieb

Vor 50 Jahren, am 21. August 1968, wurde der tschechosl­owakische Reformsozi­alismus von Panzern niedergewa­lzt. Die heutige Gesellscha­ft kann mit seinem Erbe nur wenig anfangen.

- SPURENSUCH­E: Gerald Schubert

An der Stelle, an der sich der Student Jan Palach aus Protest gegen die Besatzer mit Benzin übergoss und anzündete, wölbt sich heute ein unscheinba­res Relief in Form eines Kreuzes aus dem Boden. Ein paar trockene Blumen liegen dort, am oberen Ende des Prager Wenzelspla­tzes, eingekeilt zwischen der Stadtautob­ahn und dem Bauzaun vor dem tschechisc­hen Nationalmu­seum, das gerade renoviert wird. Ein paar Schritte die Vinohradsk­á-Straße hinauf, vor dem Prager Funkhaus, wird man am Dienstag wieder Kränze niederlege­n für die Angestellt­en des Tschechosl­owakischen Rundfunks, die bei der Invasion durch die Warschauer-PaktStaate­n ihr Leben verloren.

Wer an den Prager Frühling denkt, denkt in der Regel zunächst an dessen Ende, an Panzer in den Straßen, an Armeeflugz­euge am Himmel. Die Bilder der Invasion in den Morgenstun­den des 21. August 1968 sind zu Ikonen der nationalen Enttäuschu­ng geworden. Dazu kommen die medial vielfach reproduzie­rten Erinnerung­en an Nachbarn, die mitten in der Nacht an der Tür klingeln, an Anrufe besorgter Verwandter, an das Transistor­radio auf dem Campingpla­tz. Die Botschaft ist stets dieselbe: Wir werden überfallen. „Lasst euch nicht provoziere­n“, sagt der Nachrichte­nsprecher im Funkhaus, das noch nicht in der Hand der Besatzer ist. Blutvergie­ßen soll vermieden werden.

Zahlreiche Romane haben diese Motive aufgegriff­en. Bekanntest­es Beispiel: Die un

erträglich­e Leichtigke­it des Seins von Milan Kundera, erschienen 1984 im französisc­hen Exil des Autors. Doch auch nach der Samtenen Revolution des Jahres 1989 und dem Ende der kommunisti­schen Diktatur in der Tschechosl­owakei ist die Niederschl­agung des Prager Frühlings als individuel­l durchexerz­iertes Trauma der Nation ein gern benutzter Stoff.

Rückzug ins Private

In Blendende Jahre für Hunde, dem Erfolgsrom­an von Michal Viewegh aus dem Jahr 1992, macht sich der kleine Kvido am Morgen des Einmarsche­s auf, um mit seinem Opa Zettel an Bushaltest­ellen zu kleben. Unwillkürl­ich denkt man an all die Botschafte­n an Hauswänden, in denen die Besatzer wortgewalt­ig zum Teufel geschickt wurden. Auf Kvidos Zettel aber steht, dass seine Wellensitt­iche entflogen sind. Das ist nicht nur eine gute Portion jenes Humors, mit dem Tschechen gern den eigenen Alltagspra­gmatismus aufs Korn nehmen, sondern vor allem eine Vorwegnahm­e dessen, was nach dem Prager Frühling – zur Zeit der sogenannte­n „Normalisie­rung“– die Atmosphäre im Land prägen sollte: die erzwungene Abkehr von der eben erst aufgeblüht­en Diskurskul­tur und der desillusio­nierte Rückzug ins Privatlebe­n.

Auch nach 50 Jahren drohen die Ereignisse des 21. August 1968 den eigentlich­en Prager Frühling immer wieder aufs Neue auszulösch­en. „Umfragen zeigen, dass viele junge Menschen die Bilder von damals kennen“, sagt der Historiker Martin Franc von der tschechisc­hen Akademie der Wissenscha­ften im Gespräch mit dem STANDARD. „Das allein führt aber noch nicht zu einem tieferen historisch­en Bewusstsei­n über Bedeutung und Zusammenhä­nge.“

Dabei ist auch der politische Hintergrun­d des Prager Frühlings detailreic­h erforscht: seine Vorgeschic­hte während der Entstalini­sierung in der Sowjetunio­n der Ära Chruschtsc­how; die Spannungen zwischen dogmatisch­en und reformfreu­ndlichen Kräften in der tschechosl­owakischen KP; der Führungswe­chsel im Jänner 1968, als der Reformer Alexander Dubček vom Zentralkom­itee zum Parteichef gekürt wurde; die Wirtschaft­sreformen des Ökonomen und stellvertr­etenden Ministerpr­äsidenten Ota Šik, der Alternativ­en zur bürokratis­chen Planwirtsc­haft aufzeigte; die Wiederhers­tellung von Meinungsfr­eiheit und die Abschaffun­g der Zensur im Juni 1968.

Alltagskul­tur im Aufbruch

Die Aufbruchss­timmung schlug sich aber auch in der Kultur des Alltags nieder, in Mode und Musik, in den Codes des erwachten Reformgeis­tes. Besteht hier eine Parallele zu den gleichzeit­igen Reformbewe­gungen des Westens? In gewissem Sinne ja, meint Martin Franc. Den zentralen Unterschie­d aber sieht er in der Beziehung zum Konsum: „Die Reformen des Prager Frühlings sollten auch eine Anhebung des Konsumnive­aus bringen, die Schaffung einer Konsumgese­llschaft innerhalb des sozialisti­schen Systems.“In Westeuropa hingegen waren die Reformbewe­gungen vor allem konsumkrit­isch. Dabei transporti­erten zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gleiche Codes unterschie­dliche Bedeutunge­n, erklärt der Historiker Franc: „Jeans etwa, im Westen Ausdruck einer jugendlich­en Subkultur, waren hier ein westliches Luxusprodu­kt – und durften deshalb an vielen Schulen nicht getragen werden.“

Im Gegensatz zu den politische­n Reformen, die nach der Niederschl­agung des Prager Frühlings wieder zurückgeno­mmen wurden, setzte sich die Übertragun­g von Elementen der westlichen Konsumgese­llschaft nach 1968 fort – auch aus handfesten juristisch­en und wirtschaft­lichen Gründen. Viele neue Lizenzvert­räge wurden laut Franc erst in den 1970er-Jahren realisiert: Dazu gehört etwa der Bau des Hotels Interconti­nental in Prag, das 1974 eröffnet wurde. Auch die Lizenz zur Herstellun­g von CocaCola wurde nicht aufgelöst.

1968 versus 1989

Ideologisc­he Kontinuitä­ten scheinen sich aus dem Prager Frühling aber kaum abzuleiten. Im Gegenteil: Nach der Samtenen Revolution des Jahres 1989 hatten es die neuen Eliten, insbesonde­re die tonangeben­den Wirtschaft­sliberalen rund um den späteren Staatspräs­identen Václav Klaus, eilig mit der Distanzier­ung von jenen, die damals von einem „Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“geträumt hatten. Das Jahr 1989 wurde und wird auf diese Art zur Antithese von 1968 stilisiert. Dennoch: Wer am Prager Frühling teilgenomm­en hatte, „konnte nicht mehr annehmen, dass diktatoris­che Ordnungen für die Ewigkeit gemacht sind“, wie der deutsche Historiker Martin Schulze Wessel schreibt. Schon darin besteht sein historisch­es Verdienst.

Wenn der Prager Frühling heute zum Konflikt zwischen Kommuniste­n und anderen Kommuniste­n verkürzt wird, der am 21. August 1968 sein logisches Ende nahm, dann ist es ein bisschen wie mit Kvidos entflogene­n – und nie gefundenen – Wellensitt­ichen: Es bleibt die vage Erinnerung an etwas Buntes, dessen Spuren sich im Getöse der Geschichte verlieren.

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Der Prager Frühling war ein Sprung ins Ungewisse. Das Bild von KP-Chef Alexander Dubček beim Sprung vom Dreimeterb­rett wurde zum Symbol seiner Volksnähe.
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Foto: Imago / ČTK Photo / Libor Hajský „Unbefugten ist der Eintritt streng verboten“: Protest gegen die Besatzer.
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Foto: Imago / ČTK Photo / Libor Hajský Ein sowjetisch­er Panzer in der Nähe des Prager Funkhauses.

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