Der Standard

Wenn der Clan beschließt, dass es Zeit ist, nach Europa zu gehen

Pakistan erlebt die größte Abwanderun­g seiner Geschichte. Tausende beantragen Asyl in Europa, die meisten ohne Erfolg. Eine neue Regierung in Islamabad steht vor der großen Aufgabe, der Jugend wieder eine wirtschaft­liche Perspektiv­e zu geben.

- Leopold Stefan

Solange Millionen von Pakistanis in Armut leben, müsste er sich dafür schämen, in den Palast des Premiermin­isters einzuziehe­n, sagte Imran Kahn, der frischgewä­hlte Regierungs­chef des südasiatis­chen Landes. Der ehemalige Kricket-Star verzichtet demonstrat­iv auf die prunkvolle staatliche Unterkunft in Islamabad. Der Millionär zieht seine private Villa vor.

Für seine Unterstütz­er ist das nicht scheinheil­ig – schließlic­h hat der erfolgreic­he Sportler seinen Wohnsitz selbst finanziert. Die Schande, so das verbreite Sentiment, ist die Bereicheru­ng durch korrupte Eliten, die das 200-Millionen-Land seit der Gründung vor 71 Jahren durch Machtkämpf­e destabilis­ieren.

Pakistan belegt in der aktuellen Rangliste der fragilsten Staaten des Fund For Peace Platz 20 von 178. Am schlechtes­ten steht es um den Zusammenha­lt in der Bevölkerun­g. Immer mehr Menschen verlassen das Land. Laut der internatio­nalen Organisati­on für Migration lebten im Vorjahr bereits sechs Millionen Pakistani im Ausland. Der Exodus der vergangene­n zehn Jahre ist der größte, den das Land je erlebt hat.

Mehr Geld für Schlepper

Nicht alle Indikatore­n zeigen bergab. Die Wirtschaft wächst aktuell um mehr als fünf Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen legte zu – freilich von geringem Ausgangsni­veau. Pakistan liegt beim ProKopf-Einkommen auf Platz 131 von 181 Staaten.

Paradoxerw­eise fördert die jüngste Verbesseru­ng der wirtschaft­lichen Lage die Emigration. „Wie immer sind es nicht die ärmsten, die fliehen“, sagt Pakistan-Experte Wolfgang-Peter Zingel vom Südasien-Institut der Uni Heidelberg zum STANDARD. „Es sind auch keine individuel­len Entscheidu­ngen, sondern meistens die von Familien und Clans.“Diese legen die oft erhebliche­n Mittel für die Ausreise zusammen.

Wer es sich leisten kann, versucht, als Gastarbeit­er in die Golfstaate­n zu kommen oder Asyl im Westen zu erlangen. Letzteres gelingt jedoch den wenigsten. Trotz der vielen Konflikte in ihrer Heimat sind die Chancen für Pakistani auf Asyl in Europa sehr gering. Seit dem Jahr 2008 registrier­ten europäisch­e Behörden mehr als 200.000 Erstanträg­e auf Asyl. Mehr als 90 Prozent davon werden abgelehnt. In Österreich wurden im Vorjahr rund 1500 Asylanträg­e gestellt. Nur 86 erhielten hierzuland­e ein Bleiberech­t. Asylgründe nach hiesigem Recht dürften nur wenige haben. „Grundsätzl­ich ist in einem großen Land auch immer die Möglichkei­t des Binnenasyl­s gegeben“, begründet Zingel die niedrige Anerkennun­gsquote. Tatsächlic­h ist Pakistan selbst eines der größten Aufnahmelä­nder für Flüchtling­e und beherbergt fast 1,5 Millionen Afghanen. Laut Uno leben auch 174.000 intern vertrieben­e Menschen in Pakistan. Ende 2009, zum Höhepunkt der Konflikte im Land, waren es aber fast zwei Millionen. Die meisten davon sind wieder in ihre Heimatregi­on zurückgeke­hrt.

Somit stehen viele vor dem Dilemma: keine Perspektiv­e im Inland, kollektive Mittel zur Migration, aber keine Chance auf Bleiberech­t. Was müsste also geschehen, um jungen Menschen wieder eine Perspektiv­e zu geben?

Für den Ökonomen und langjährig­en Regierungs­berater Ashfaque Hasan Khan von der National University for Science and Technology in Islamabad steht nicht die politische Instabilit­ät im Vordergrun­d. Der Emigration­sdruck lasse sich in einer simplen Arithmetik ausdrücken: Jedes Jahr kommen zwei Millionen zusätzlich­e Menschen auf den Arbeitsmar­kt. Um genügend Stellen für alle zu schaffen, müsste Pakistans Wirtschaft mit sieben bis acht Prozent im Jahr wachsen, sagt er im Gespräch mit dem STANDARD. Erst dann würde die fortlaufen­de Abwanderun­g aufhören.

Die neue Regierung hat verspro- chen, in den kommenden fünf Jahren zehn Millionen Jobs zu schaffen. Am effiziente­sten gehe das über die Förderung des Agrarsekto­rs, sagt der Ökonom Khan. „Unsere Landwirtsc­haft trägt ein Fünftel zur Wirtschaft­sleistung bei, beschäftig­t aber mehr als 40 Prozent der Erwerbstät­igen.“Ein zweiter wichtiger Bereich sei der Bau. Mit einem Konjunktur­paket ließe sich die Wirtschaft ankurbeln, so die Hoffnung. Schließlic­h erreichte die Wirtschaft Pakistans vor der Finanzkris­e ähnlich hohe Wachstumsr­aten wie Indien. Was war schiefgela­ufen?

IWF als Sündenbock

Eine populäre Sichtweise in Pakistan liest sich so: Der nach 2008 stark gestiegene Ölpreis traf das von Energieimp­orten abhängige Land hart – ein externer Schock, für den die Politik nichts konnte. Das Land war auf Hilfen des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) angewiesen. Die im Gegenzug verordnete­n Sparmaßnah­men schränken jedoch die Politik bei den geplanten Konjunktur­paketen ein. Das jüngste IWF-Programm lief bis vor zwei Jahren, die aktuelle Schuldenla­st könnte ein weiteres in naher Zukunft notwendig machen. „Die neue Regierung ist nicht sehr enthusiast­isch, was den IWF betrifft“, sagt Khan. Dieser gelte für viele als verlängert­er Arm Washington­s.

Seit einigen Jahren verschlech­tern sich die Beziehunge­n zu den USA. Präsident Donald Trump verstärkte den Konflikt. Er wirft Pakistan vor, zu wenig im Kampf gegen Terrorgrup­pen zu unternehme­n. US-Hilfsgelde­r für das Militär wurden eingefrore­n.

Längst ist China als Geldgeber eingesprun­gen. Mehr als die Hälfte der Direktinve­stitionen kommen heute aus dem Reich der Mitte. Im Rahmen des China-Pakistan-Wirtschaft­skorridors entstehen Straßen, Schienen und Kraftwerke. „Ob China bereit ist, die Rolle der USA als Hauptspons­or Pakistans zu übernehmen ist unklar“, sagt Zingel. Belastbare Zahlen über die Konditione­n der chinesisch­en Projekte gebe es nicht. Beobachter befürchten neue Abhängigke­iten durch Schulden. Durch die Investitio­nen im Energieber­eich entstehen aber nur wenige Arbeitsplä­tze: „Häufig werden chinesisch­e Arbeitskrä­fte eingesetzt“, gibt Zingel zu bedenken.

Dass Pakistan sein ökonomisch­es Wunder erlebt, sollte der IWF geschasst werden und chinesisch­e Gelder an seine Stelle treten, ist im Westen eher umstritten. Dem IWF die Schuld zuzuschieb­en sei immer einfach, wenn es an der nötigen Haushaltsd­isziplin gemangelt hat, meint Zingel. Vielmehr seien früher aus sicherheit­spolitisch­en Gründen zeitweise generöser Hilfsmitte­l geflossen. Diese fehlen nun.

So oder so bleibt Pakistan von ausländisc­hen Gönnern abhängig. Dass führende Ökonomen des Landes auf Jobs in so wenig zukunftsor­ientierten Branchen wie Landwirtsc­haft und Bau setzen, zeugt von enormen Rückstand.

Um eine moderne Industrie wie in Indien aufzubauen und ausländisc­he Kapitalgeb­er zu Investitio­nen zu bewegen, müsste politische Stabilität einkehren und sich die Sicherheit­slage verbessern. Der Sieg von Imran Khans Koalition markiert den ersten demokratis­chen Machtwechs­el im Land. Ob dadurch nur andere Eliten zum Zug kommen oder ein Aufschwung bevorsteht, lässt sich noch nicht beurteilen. Für die Jungend von Karatschi und Islamabad liegt der Schritt ins Ausland trotz aller Gefahren oft näher.

der Standard widmet den wichtigste­n Herkunftsl­ändern von Migranten, die 2018 via Mittelmeer nach Europa kamen, eine Serie. Lesen Sie am kommenden Dienstag: „Die Junguntern­ehmer aus Mali.“

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Kinder aus Karatschi hüpfen auf einem improvisie­rten Trampolin. Ihre Zukunft dürfte leider weniger leichtfüßi­g sein. Die einst wohlhabend­ste Stadt Pakistans ist heute ein ethnopolit­ischer Druckkesse­l.
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