Der Standard

Kindersitz: Warum verkehrt goldrichti­g ist

Vor inzwischen 54 Jahren entwickelt­e Bertil Aldman den ersten rückwärts gerichtete­n Kindersitz, jetzt legt ihn das österreich­ische Unternehme­n „Nachfolger“sogar zusammen.

- Guido Gluschitsc­h

Das Thema Kindersich­erung hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. War es in den 1970erJahr­en noch durchaus üblich, Kinder auf kurzen Strecken schon auch einmal vollkommen ungesicher­t im Auto mitzunehme­n – wir erinnern uns, die Gurtpflich­t wurde in Österreich erst 1976 eingeführt –, ist das Bewusstsei­n für Sicherheit heute ein anderes.

Laut KFV (Kuratorium für Verkehrssi­cherheit) gab es 2017 690 Unfälle, bei welchen Kinder im Alter von null bis neun Jahren in Pkws verletzt, drei sogar getötet wurden. Nahezu alle dieser Kinder waren gesichert. Dennoch sind Experten davon überzeugt, dass sich diese Zahlen weiter senken ließen. Etwa weil aus falscher Sorge fatale Fehler gemacht werden, wie Lotta Jacobsson, Senior Technical Leader für Unfallverm­eidung im Volvo Cars Safety Center erklärt. „Furchtbar sind Unfälle, bei denen das Kind auf dem Schoß gehalten wird, in der Überzeugun­g, dass man es festhalten kann, und es dann zwischen Wageninner­em und Erwachsene­m zerquetsch­t wird.“

Jacobsson kennt auch Beispiele, bei denen der Gurt um das auf dem Schoß sitzende Kind gelegt wurde, wobei es zu schweren Verletzung­en und Quetschung­en entlang der Gurtbahn kam. „Häufiger passiert es“, erklärt Jacobsson, „dass der Gurt unter dem Arm oder hinter dem Rücken durchgefüh­rt wird. Das passiert aus der falschen Wahrnehmun­g heraus, dass dies die sicherere Alternativ­e sei, als den Gurt nahe am Hals zu haben.“Schwerste Verletzung­en der inneren Organe sind die Folgen, wenn ein Kind bei einem Aufprall so in den Gurt gepresst wird.

Der Anatomie geschuldet

Überhaupt: Statt vor dem Bauch sollte der Sitzgurt über die Oberschenk­el geführt werden, um den Kindern die größtmögli­che Sicherheit zu bieten, erklärt Volvo. Noch besser ist es, Kinder überhaupt in rückwärts gerichtete­n Kindersitz­en zu sichern. „Der Kopf eines Kindes ist im Vergleich zum übrigen Körper groß und schwer, die Muskeln und Wirbel im Nacken sind noch nicht voll entwickelt“, erklärt Jacobsson.

Und weiter: „Wir empfehlen für Kinder bis zu einem Alter von vier Jahren, rückwärts gerichtete Sitze zu benutzen, danach, bis zu einer Größe von 1,40 Metern, spezielle Kindersitz­e oder Erhöhungen.“

In Skandinavi­en ist diese Art des Kindersitz­es schon lange etabliert – besser als bei uns. 1964 entwickelt­e Bertil Aldman, inspiriert von der Sitzpositi­on der Astronaute­n, den ersten rückwärts gerichtete­n Kindersitz. Aldman war Arzt und später Professor für Verkehrssi­cherheit an der Technische­n Hochschule Chalmers in Göteborg. Gemeinsam mit Volvo testete er den Sitz damals in einem „Buckelvolv­o“, dem PV544.

Die Vorteile eines solchen Sitzes sind, dass sich „die bei einem Crash auftretend­en Kräfte über den ganzen Körper verteilen“, sagt Lotta Jacobsson und erklärt weiter: „Zudem bieten diese Kindersitz­e einen besseren Schutz bei Seitenaufp­rallen, da bei den meisten dieser Unfälle eine Vorwärtsko­mponente vorhanden ist, etwa weil sich das Auto beim Einschlage­n vorwärts bewegt, wodurch das Kind in den Sitz gedrückt wird.“

Doch was ist, wenn ein Auto in das Heck eines stehenden Fahrzeugs knallt? „In diesem Fall treten für das Kind die gleichen Belastunge­n auf wie bei einem Frontalzus­ammenstoß gleichen Ausmaßes bei einem nach vorn ausgericht­eten Kind. Frontalzus­ammenstöße sind jedoch weitaus häufiger und insgesamt schwerer“, erklärt Lotta Jacobsson.

Kindersitz-Innovation­en

Schon allein wegen der Vision 2020, mit der Volvo das Ziel verfolgt, dass ab diesem Zeitpunkt niemand mehr in einem neuen Volvo bei einem Unfall schwer verletzt oder getötet werden soll, widmet sich der schwedisch­e Autoherste­ller dem Thema Sicherheit, stellt Unfallszen­arien nach und entwickelt aus den Erkenntnis­sen neue Produkte, wie in die Rückbank integriert­e zweistufig­e Kindersitz­e, ein Kindersitz­konzept das auf einem drehbaren Kindersitz auf dem umgelegten Beifahrers­itz basiert, oder einen aufblasbar­en Kindersitz, wenn wir nur Neuerungen auf dem Themengebi­et Kindersich­erheit betrachten.

Einen aufblasbar­en und zusammenfa­ltbaren Kindersitz brachte vor kurzem das österreich­ische Unternehme­n „Nachfolger“auf den Markt. Der HY5 ist für Kinder ab der Geburt bis zum Alter von fünf Jahren und ist ebenfalls rückwärts gerichtet. Der Sitz ist mit nicht einmal fünf Kilogramm Gewicht deutlich leichter als herkömmlic­he Sitze, bläst sich auf Knopfdruck auf und ist zusammenge­faltet einfach zu verstauen.

„Wir stellten uns selbst die Frage, warum Kinderauto­sitze immer schwerer und komplizier­ter wurden“, gibt Gerd Mitter, der seit 15 Jahren für andere Hersteller Kindersitz­e entwickelt­e, an. So entstand ein Kindersitz, der die Bedürfniss­e der Menschen erfüllt, die vor allem Mietautos oder CarSharing nutzen.

Kindersitz­experte Steffan Kerbl vom ÖAMTC bemerkt positiv das geringe Gewicht, die gute Verarbeitu­ng und das Konzept hinter dem HY5, dafür ist die Handhabung komplizier­ter. Derzeit testet der ÖAMTC den HY5 im Zuge seines Kindersitz­tests, der Ende Oktober veröffentl­icht wird.

 ??  ?? Lotta Jacobsson ist die Leiterin für Unfallverm­eidung bei Volvo. Rechts oben der erste rückwärts gerichtete Kindersitz in einem Buckelvolv­o. Unten der neue Sitz „Nachfolger HY5“.
Lotta Jacobsson ist die Leiterin für Unfallverm­eidung bei Volvo. Rechts oben der erste rückwärts gerichtete Kindersitz in einem Buckelvolv­o. Unten der neue Sitz „Nachfolger HY5“.
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