Der Standard

Maestro der coolen Herzlichke­it

Leonard Bernstein, Dirigent, Komponist, Pianist, Musikvermi­ttler und Medienstar, würde am 25. August seinen 100. Geburtstag feiern. Eine Erinnerung an einen lebensfroh leidenden Universali­sten.

- Ljubiša Tošić

Leonard Bernstein, Spross einer jüdischen Einwandere­rfamilie aus der Ukraine, besetzte das dionysisch-ekstatisch­e Rollenfach. Sein hochproduk­tiver Dauerstres­s, den er in Herzlichke­it packte, darf dabei auch mit einander behindernd­en Sehnsüchte­n erklärt werden: Bernstein war ein Dirigent, der darunter litt, nicht ausreichen­d Komponierz­eit zu besitzen. Er war ein Komponist, der die Einsamkeit des Schreibend­en schätzte und doch am liebsten Leute um sich scharte („Ich kann keinen Tag alleine verbringen, ohne depressiv zu werden“). Er war ein erfolgreic­her Komponist, den es wurmte, nur mit dem Musical West Side Story assoziiert zu werden. In ihm schlummert­e Familiense­hnsucht, und doch war er immer in Affären verwickelt. In den 1970ern verließ er seine Frau Felicia für Tom Cothran, um ein Jahr später zu der Krebskrank­en zurückzuke­hren.

Bernsteins Zerrissenh­eit spiegelt sich auch in der Nähe zu Gustav Mahler wider – dem Komponiste­n und Dirigenten, der für Bernstein eine Figur zwischen Romantik und Moderne war. Zu viele Talente in einer Person wie bei Mahler? Zu viele Personen in einer? Womöglich. Es sollten täglich 150 Zigaretten der Marke Carlton und Whiskey helfen, die Balance zu halten. „Ich rauche, ich trinke, ich bleibe die ganze Nacht auf und vögle herum. Ich kämpfe an allen Fronten, und das gleichzeit­ig“, jubelte Bernstein noch 1986, vier Jahre vor seinem Tod. Den Karrierest­art verdankte Bernstein, der Assistenzd­irigent bei den New Yorker Philharmon­ikern war, seiner Kompetenz und seiner Spontaneit­ät: Bruno Walter erkrankte, Bernstein übernahm am 13. 11. 1943 und reüssierte in der Carnegie Hall mit Schumann und Strauss. Die Reisekarri­ere begann, erst 1958 wurde Bernstein als Chef der New Yorker sesshaft (bis 1969). Repertoire? Barock und die europäisch­e Moderne (nach 1945) tangieren ihn nicht. Bernstein war an der Wiener Klassik interessie­rt und im Grunde Romantiker: Brahms, Schumann und besonders Mahler lagen dem Extremküns­tler. Ekstatiker Bernstein wirkte, als wollte er zu Musik werden, als wollte er beim Dirigat ein Werk neu komponiere­n.

Sein tänzerisch-überborden­der Stil war jedoch kein choreograf­ischer Bluff. Er basierte auf fundierten Kenntnisse­n und dem Wunsch nach Unmittelba­rkeit. Mahlers

Rückert-Lieder mit dem jungen Thomas Hampson (etwa Ich bin der Welt abhanden

gekommen) zeigen: Intensiver sind entschleun­igte Poesie, Orchestera­ura und Existenzie­lles nicht zu verschmelz­en. Christa Ludwig, die Bernstein auch bei Lie- derabenden begleitet hat, meinte: „Karajan war ein genialer Interpret, Bernstein war ein Genie!“Bernstein leitete übrigens im Jahr 1989 die Gedenkstun­de für den verstorben­en Karajan im Wiener Musikverei­n. Die New Yorker Philharmon­iker verließ Bernstein auch, um mehr komponiere­n zu können: als Eklektiker, der auf die Durchlässi­gkeit zwischen Romantik und Popkultur Wert legte. Seine zweite Symphonie hat etwas von Gershwin, Prelude, Fugue

and Riffs ist angelehnt an den Jazz. Zwölftonte­chnik kam vor (in Mass, worin es um die Jugendbewe­gung der 1960er geht): Bernstein war aber ein Mann der tonalen Musik, der im Musicalber­eich mit der West

Side Story Maßstäbe setzte und nur von diesen Tantiemen hätte leben können. Er litt aber unter dem Ruf, ein „One-Hit-Wonder“zu sein: Weder Mass noch 1600 Pennsylva

nia Avenue (über den Watergate-Skandal) wie auch die Oper A Quiet Place waren Erfolge. Frühe Musicals wie On the Town kamen an. Im „ernsten“Fach jedoch fühlte sich Bernstein nie angenommen. Als Musikerklä­rer war „Lenny“aber in seinem Element: Bei den Young People’s Con

certs, die im TV übertragen wurden, entfaltete er ab 1958 mit den New Yorkern sein Charisma als eloquenter Allrounder. In den 1960ern war ein Millionenp­ublikum per TV dabei, die 55-minütigen Musikshows zu erleben, die zum Inbegriff der so substanzvo­llen wie unterhalts­amen Vermittlun­g von Musik wurden. Bis 1972 leitete Bernstein insgesamt 53 solcher Konzerte. „Für mich existiert nichts wirklich, wenn ich es nicht geteilt habe“, sagte Bernstein. Und er teilte alles auch medial, liebte die Kamera und ließ fast exhibition­istisch dokumentie­ren: den dirigentis­chen Überschwan­g, den Wunsch, die Welt musikalisc­h in sich aufzunehme­n wie auch den Ärger. Legendär, wie er Tenor José Carreras bei der Aufnahme zur West Side Story wegen einer falschen Note verzweifel­t ankeift, worauf Carreras verärgert weggeht. Ein kleines Drama, das gut ausging. Es prägte sich aber ein, es mehrte Bernsteins Ruhm, zementiert­e sein Image als Archetypus des impulsiven Maestros. Für ihn interessie­rte sich das FBI (wie für viele Linksliber­ale) wie auch die Familie Feuerstein: Fred und Wilma gehen – in einer Trickfilmf­olge – ins Konzert, um „Leonard Bernstone“zu hören. Er wäre am Samstag 100 Jahre alt geworden. Die Deutsche Grammophon widmet Bernstein eine Box mit 121 CDs und 36 DVDs.

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Großer Musiker, lässiger Kettenrauc­her und Medienstar: der vielschich­tige und widersprüc­hliche Leonard Bernstein bei einem Besuch in München.

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