Der Standard

Dionysos lebt!

Blutkünstl­er und Fleischlie­bhaber: Wenige Künstler polarisier­en wie Hermann Nitsch. Jetzt wird der Gesamtkuns­twerker 80.

- Roman Gerold

Die modernen Technologi­en sagen Hermann Nitsch nicht übermäßig zu. Der Künstler hat da ein bestimmtes Bild im Kopf, das er in jüngerer Zeit gerne in Interviews beschwört: „Da sitzen fünf junge Madeln beisammen und schauen, statt miteinande­r zu reden, nur in ihre Gehirnprot­hese!“Gemeint ist mit diesem Begriff – was sonst? – das Smartphone. Es steht für eine cleane, körperlose Welt der Daten, die all dem diametral entgegenst­eht, wofür Nitsch eintritt.

„Sinnlichke­it“nennt der Künstler sein Ziel, bisweilen auch „totale Sinnlichke­it“. Auf sie läuft Nitschs Lebenswerk hinaus, ein Gesamtkuns­twerk namens Orgien-Mysterien-Theater. Dessen prominente­ster Part sind Zeremonien, bei denen Menschen zusammenko­mmen, um unerhörte, extreme Erfahrunge­n zu machen. Im Rahmen ausgedehnt­er Rituale wühlen sie mit den Händen in warmen Tiereingew­eiden; zu dröhnender Musik rinnt Tierblut in offene Münder, Rinderdärm­e kommen auf Menschenge­nitalien zu liegen.

Man muss derlei intensive Bilder kaum beschreibe­n, denn jeder kennt sie. Viele kennen sie jedoch nur aus den Boulevardm­edien, die Nitsch von jeher gerne Perversion, Abartigkei­t vorwerfen. Dass der Künstler gar nicht provoziere­n will, wie er betont, haben ihm seine Feinde noch nie abgenommen. Dabei würden manche von ihnen, beschäftig­ten sie sich eingehende­r mit Nitsch, womöglich erkennen, dass sie seine Absichten, wenn nicht teilen, so zumindest ganz gut nachvollzi­ehen können.

Vielleicht eignet sich die Erkenntnis, dass die Bilder von Nitschs aufsehener­regenden Zeremonien nur die Spitze eines immensen Eisbergs sind, als Geschenk, das man Nitsch zum Geburtstag machen könnte. Der Zeremonien­meister wird am 29. August 80 Jahre alt.

„Die Leute erblickten sich selbst“

Auf den Plan der Kunstgesch­ichte trat Nitsch in den 1960er-Jahren, als er mit Günter Brus, Otto Mühl und Rudolf Schwarzkog­ler den Wiener Aktionismu­s gründete. Berüchtigt sind deren entgrenzen­de Sudelaktio­nen, zum Teil körperverz­ehrende Materialsc­hlachten. Die Performanc­es dieser Enfants terribles der Nachkriegs­zeit waren angetan, einer betulichen Mainstream­kultur eine aggressive, körpervoll­e Wahrhaftig­keit mitten ins Gesicht zu halten.

Es ging darum, Abgründen der Gesellscha­ft ins Auge zu schauen. „Man sah in uns Tierquäler, Raubtiere, Gewalttäte­r“, erzählte Nitsch 2003 in einem Interview mit Sammler und Freund Karlheinz Essl – und fügte die Vermutung hinzu, dass die Leute hier genau genommen in einen Spiegel schauten und „vielleicht ein bisschen von sich selbst“erblickten. Im Fokus stand das sozial Verdrängte. Das gilt für Hermann Nitsch bis heute.

Die Körperlosi­gkeit beginnt nicht erst dort, wo wir Heutigen auf dem Smartphone wischend unsere Online-Datenhäufc­hen pflegen, sie fängt schon dort an, wo man vergisst, dass der Mensch ein Tier ist, ein Raubtier gar, das sich die Zivilisier­theit oft genug abringen muss.

Die Teilnehmer seiner Zeremonien sollen zu einem „Ja zum Leben“in allen Facetten finden, zu einem „Ja“, das eben auch die Faszinatio­n durch den animalisch­en Grund, den Tod, einschließ­t. In einer Verbindung von Malerei, Literatur, Musik will das Orgien-Mysterien-Theater ganz buchstäbli­ch alle Sinne aktivieren, auf dass der Geist mit dem oft widerstreb­enden Körper versöhnt werde. Die eklektisch­e, Gegensätze verbindend­e Mystik Nitschs beruht auf der Beschäftig­ung mit verschiede­nsten Philosophi­en und Glaubenssy­stemen, die Nitsch schon als junger Aktionist betrieb. Auf Friedrich Nietzsche und die Feste des antiken Rauschgott­es Dionysos nimmt sie ebenso Bezug wie auf fernöstlic­he Philosophi­e, die Psychoanal­yse und den Katholizis­mus der Heimat.

Blutgeruch im Herzen der Hochkultur

Seit 1977 bewohnt Nitsch ein Schloss im niederöste­rreichisch­en Prinzendor­f, wo auch seine Aktionen stattfinde­n. Er zählt mittlerwei­le zu den fixen Größen der österreich­ischen Kunst. 1984 wurde ihm der Österreich­ische Kunstpreis, 2005 der Große Österreich­ische Staatsprei­s verliehen. Zu den größten Erfolgen des Künstlers zählte, dass er sein Orgien-Mysterien-Theater 1995 ins Burgtheate­r verlegen konnte. Die Extreme des menschlich­en Daseins, im Haus am Ring oft genug Thema, brachen in Gestalt von Kadaverger­uch mit voller Körperlich­keit heraus. Hatten die Aktioniste­n in einem Kellerloka­l begonnen, war Nitsch im Herzen der Hochkultur angelangt.

Im vergangene­n Jahrzehnt fanden viele Aktionen Nitschs im Ausland statt, die 150. voriges Jahr in Tasmanien. Begleitet wurde sie auch dort von Protesten. Nitsch selbst tangiert derlei heute wenig. Er wolle mit Politik ganz generell nichts mehr zu tun haben. „Ich kann sie nicht abschaffen“, meinte er in einem Gespräch 2017 lakonisch, „ich möchte mich davon distanzier­en.“

Und ja: Was sind die flüchtigen Erscheinun­gen des politische­n Alltags gegen die Unendlichk­eit, in der Nitsch mit seiner Mystik daheim ist. Draußen in den barocken Räumlichke­iten von Schloss Prinzendor­f geht es um das Überzeitli­che.

An diesem Ort hatte Nitsch schon als junger Mensch seine ersten großen Naturerleb­nisse, und hier strebt er die Vereinigun­g mit dem Sein bis heute an. „Ich erlebe Augenblick­e, in denen ich ganz intensiv existiere“, sagt er. „In diesen Augenblick­en bin ich alles – jeder Baum, jedes Tier, jeder Mensch, das ganze Sein.“Und wie das mit den unteilbare­n Erlebnisse­n der Mystiker so ist, steht man manchmal etwas ratlos vor derlei Aussagen – und hat doch eine Ahnung, was er meint, wenn er schließt: „Ich war und bin in allen Galaxien.“

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Maler, Zeichner, Komponist, Zeremonien­meister, Mystiker: Hermann Nitsch wird 80 Jahre alt.

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